Abo bestellen

«Das Lesen bedeutet mir fast alles»

Erstellt von Majken Grimm |
Zurück

Seit nunmehr 50 Jahren gibt es das Café Littéraire in Küsnacht. Marie-Madeleine Steiger leitet den Lesekreis. Sie geniesst es, sich gemeinsam mit anderen vertieft mit einer Lektüre auseinanderzusetzen.

Marie-Madeleine Steiger rückt die Stühle und Tische im Jürgehus neben der reformierten Kirche in Küsnacht zurecht. Es ist Mittwochmorgen und heute findet wieder ein Treffen des Café Littéraire statt. Aktuell lesen die Teilnehmerinnen des Lesekreises gemeinsam «Der Zauberberg» von Thomas Mann. Der Autor habe unter anderem auch in Küsnacht gewohnt, erzählt Steiger.

Abstand zum Alltag

Zwei Mal pro Monat führt die Leiterin des Café Littéraire ein Treffen durch. Die Teilnehmenden setzen sich jeweils intensiv mit einem Buch auseinander. Es soll kein abgehobenes Gespräch unter Literaturexperten sein: Im Zentrum steht, was die Lesenden am Buch persönlich anspricht und welche Aussagen der Autor ihnen mitgeben möchte.

Es geht jedoch auch um eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Text. Auf der Liste der gelesenen Bücher stehen sowohl Klassiker als auch moderne Bestseller. Oft schlagen Teilnehmende einen Roman vor und übernehmen dazu selbst die Moderation der Diskussionen. Wie lange ein Werk die Lesenden begleitet, hängt von dessen Länge und Komplexität ab – mal sind es drei Treffen, mal ein halbes Jahr. Zu Steigers Favoriten unter den gelesenen Autoren gehören Meinrad Inglin, Gottfried Keller und Stefan Zweig. Privat liest sie viel Fachliteratur aus den Bereichen Pädagogik, Theologie, Psychologie, Philosophie und Geschichte. Das Lesen bedeutet Steiger viel. «Fast alles», sagt sie. «Auch in Zeiten, in denen ich sehr beschäftigt war mit meinen Kindern, dem Haushalt und der Arbeit, half mir das Lesen, zurückzutreten und mich in eine andere Welt zu vertiefen. So sah ich den Alltag mit Distanz und konnte wieder gut einsteigen», so die pensionierte Primarlehrerin und dreifache Mutter.

Wenn Steiger ein Buch liest, unterstreicht sie viel. Um dem Schreibstil von Thomas Mann in «Der Zauberberg» näherzukommen, schreibt sie Sätze oder Ausdrücke ab, die sie spannend und relevant findet. «Thomas Mann schreibt extrem dicht und akribisch», sagt sie. «Er beschreibt jede Bewegung eines Menschen, den Augenkontakt, die Hände. Dadurch gibt er die Atmosphäre der Situation wieder.»

Geistige Nahrung

Das Café Littéraire besucht die 71-Jährige bereits seit den Neunzigerjahren. Damals lag die Leitung noch bei Hannelore Isler. Steiger legte ihren freien Tag bewusst auf den Mittwoch, als sie ihre Arbeitszeit reduzierte. 2014 trat sie schliesslich Islers Nachfolge an. Steiger schätzt am Café Littéraire die Möglichkeit, ihre Freude am Lesen und die Seriosität dabei mit anderen zu teilen. Neben den Gesprächen gefallen ihr auch die Lesungen, denn immer wieder laden sie Autoren ins Jürgehus ein. Die Finanzierung übernehmen die reformierte und die katholische Kirche, wofür Steiger dankbar ist. Die Tür öffnet sich und nach und nach treten die heutigen Teilnehmerinnen ein. Viele der Frauen sind bereits seit Jahren bis Jahrzehnten mit dabei. Zwei kamen für den aktuellen Roman neu hinzu. Dass vorwiegend Frauen ­kommen, hat einen historischen Grund: Pfarrer Walter Koch, welcher das Café Littéraire 1974 gründete, wollte damit Hausfrauen «geistige Nahrung» ermöglichen.

Die Teilnehmerinnen nehmen sich Kaffee und Gipfeli und setzen sich mit ihrer Ausgabe von «Der Zauberberg» um die Tischgruppe. Steiger gibt einen kurzen Input, dann stellt sie vertiefende Fragen zum Text. Was möchte Thomas Mann mit der Kapitelüberschrift «Ewigkeitssuppe» ausdrücken? Das Gespräch ist eröffnet.