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Das Weihnachtslicht in der Splendid-Bar

Erstellt von Andreas Cabalzar |
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Pfarrer Andreas Cabalzar hat für den «Küsnachter» jahrelang die Weihnachtsgeschichte geschrieben. Dann gab es eine Pause von zwei Jahren – nach seinem Unfall auf den Ski. Nun hat er die Tradition wieder aufgenommen und erzählt vom berühmten Spalt, durch den das Licht fällt.

Gianni Amato, wie jeden Abend, im dunkelblauen Anzug, die Trompete auf dem Flügel, spielt versunken «Stella by Starlight». Es scheint, als nähme er den Trubel um sich herum – die Leute, die schwatzend, lachend, trinkend, dicht an dicht um den Flügel stehen – nicht wahr.
Wie der Pianist Amato ist Richard Goodman versunken in die Musik. Er nimmt einen kräftigen Schluck seines Gins und ist in seinen Gedanken in
New York, als er Sofia in der Flagstaff-Bar kennen gelernt hatte. Ähnliches Am­biente und auch ein Pianist, der «Stella by Starlight» spielte, 35 Jahre liegen dazwischen.

Sofia, eine Schweizer Medizinstudentin trank bei ihm einen Verveinetee. Typisch Sofia, zu jeder Gelegenheit bestellte sie in den folgenden Jahrzehnten ihren Tee; in jeder Bar, jedem Restaurant, zu Hause. Richard, der während seines Studiums in der «Flaggstaff», arbeitete, wunderte sich nicht nur über die etwas ausgefallene Bestellung, er war auch hingerissen von den bernsteinfarbenen Augen im fein geschnittenen Gesicht Sofias, das von dunklen Locken umspielt wurde. Liebe auf den ersten Blick – auch bei ihr.

Sofia blieb in New York, blieb bei ihm. Richard wurde Pilot bei der Air Force. Die Jahre in Amerika waren nicht nur Honeymoon, ihre «amour fou» wurde immer wieder auf die Probe gestellt, besonders nachdem Richard im ersten Irak-Krieg Einsätze fliegen musste. Der Krieg veränderte, verhärtete ihn. Seine Seele, vom Töten durcheinander gebracht, litt. Bilder der Einsätze verfolgten ihn bis in seine Träume – bis heute. Richard war durch seinen Kriegseinsatz verstört, litt an Depressionen und Aggressionen, wollte nicht mehr fliegen
Sophias geduldige Liebe, ihre Zärtlichkeit, halfen ihm den Weg zurück in ein geregeltes Leben zu finden. Nach und nach vernarbten seine Wunden. Er studierte noch einmal: Psychologie. Dann bekam Sofia ein Jobangebot in ­einer Klinik in den Schweizer Bergen. Er ging mit nach Davos. Als Kommunika­tionsspezialist für Krisensituationen machte er sich selbstständig. Aufgrund seines speziellen Lebenslaufes ist er ­gefragt.

Gianni Amato spielt «Eye of the Tiger». Richard Goodman wird aus seinen Gedanken gerissen, leert das Glas in einem Zuge, bestellt einen weiteren doppelten Gin. Eine junge Frau kreischt, ein Typ hebt sie vom Barhocker und verführt sie zu ­einem wilden Tanz. Richard schaut zu. Erinnert sich an die Tanzsessions mit ­Sofia, die es genoss, ihn zu umgarnen mit ihrem Tanz. Er war nicht ungelenk, aber doch eher der Tanzbär denn der elegante Tänzer, und sie so geschmeidig, leicht. Schmerzhaft und doch schön die Erinnerung.
Vor Erinnerungen ist er in den Weihnachtstagen geflohen. Nicht alleine in der Davoser Wohnung sein – ohne Arbeit war die Einsamkeit nicht zu ertragen. Minuten wurden zu Stunden, Stunden zu Tagen, Tage zu Jahren und in der Leere macht sich der Schmerz breit, dehnte sich aus. Jede Ecke der Wohnung verknüpft mit Erinnerungen an sie und sie fehlt so unglaublich.

Seit vergangenem Januar, als sie einfach nicht mehr nach Hause gekommen ist. Ein tödlicher Skiunfall. Für Richard zerbarst auf einen Schlag sein Leben. Alles leer in ihm, sinnlos. Wohin gehen? In Amerika erwartete ihn niemand mehr. Davos,
die Erinnerungslandschaft, war zum Schmerzenstal geworden. Er flüchtete in die Arbeit und jetzt, am 23. Dezember, in die Stadt, die Anonymität, den Trubel der Splendid-Bar.
Nun tanzen weitere Gäste, zu «Jump» von Van Halen. Richard schaut der jungen Frau und ihrem Tänzer zu, die sich ausgelassen zur Musik bewegen. Sie ist schön in ihrer Leichtigkeit, Lebendigkeit. Mit leuchtenden Augen sieht sie zu ihm, lächelt, er prostet ihr zu und lächelt zurück. Das erste Mal seit Sofias Tod, dass er auf eine Frau reagiert.
Sie tanzt weiter, ihr Gesicht verschwindet in den dunklen Locken. Richard ist ganz da, hört die Musik, geniesst die ansteckende Lebensfreude der jungen Leute. Gianni spielt mit der Trompete im Stil von Miles Davis «Around Midnight», es ist kurz vor zwei Uhr, der Raum beginnt sich zu leeren. An der Bar die Betrunkenen, die noch «One for Road» bestellen. Die Gruppe mit der jungen Tänzerin bezahlt, der Tänzer hält die Türe offen, seine Partnerin entschwindet schwatzend und lachend in die Nacht.
Gianni Amato spielt als letztes Stück «There is a crack in everything,  that’s how the light gets in», eines von Richards Lieblingsstücken. Amato singt: «Verweile nicht bei dem, was Vergangen ist oder noch kommen wird ... da ist ein Riss, ein Riss in allem. Das ist der Spalt, durch den das Licht einfällt.»

Richard sieht, dass die Tänzerin ihre Handschuhe vergessen hat. Er geht zum Sofa, nimmt die Handschuhe auf, um sie an der Bar abzugeben. Da geht die Türe auf und die Tänzerin stürmt ins «Splendid», sieht Richard mit den Handschuhen in den Händen, kommt zu ihm, mit einem strahlenden Lachen. Er gibt ihr die Handschuhe, und sie dankt ihm, mit einem Kuss auf die Wange, wünscht ihm: «Schöne Weihnacht!»
Amato wiederholt den Refrain auf dem Piano: «Da ist ein Riss, ein Riss in allem. Das ist der Spalt, durch den das Licht einfällt.»