Wenn ich in meinen frühsten Erinnerungen nach einem Ferienerlebnis grabe, das noch klar in meinem alten Kopf präsent ist, als ob es gestern gewesen wäre, so sind es die Sommerferien in Peist im Jahr 1955. Damals war ich 7 Jahre alt. Meine Mutter und ihre beste Freundin hatten für uns Schlatter-Zwillinge und für Gretlis zwei Töchter Ursi (7) und Ruth (10) fünf Wochen lang ein ganzes Bauernhäuschen im Prättigau gemietet. Und so fuhren wir los, zwei junge Mütter mit zwei Riesenkoffern und wir vier Kinder mit unseren schweren Rucksäcken. Mit dem Zug über Chur ging es nach Peist. Ein Auto hatte niemand weit und breit. Und die Bahn war damals anscheinend noch erschwinglich. Die beiden Väter drückten sich elegant vor der Reise, mit der Ausrede «Wir haben es im Moment sehr streng im Büro». Sie versprachen aber, mindestens 10 Tage zu kommen.
Kennen Sie Peist? Ein Kaff auf der Strecke nach Arosa. Der Bahnhof, ja, es gab einen, tief unten im Tal mit einem steilen Aufstieg hinauf ins Dorf. Die Frauen bugsierten, unter gütiger Mithilfe eines netten Rekruten, die schweren Koffer aus dem Zug und wir Kinder schauten zu. Und da stand sogar eine Art Bahnhofvorstand, im blauen offenen Hemd, vor dem winzigen Bahnhäuschen und schaute uns an wie von einem anderen Stern. Gretli fragte ihn: «Kann man hier ein Taxi bestellen»? «Ja, eigentlich schon, das kommt aber dann von Arosa und das wird teuer.» So schauten die beiden Frauen an diesem heissen Sommernachmittag auf ihre grossen Koffer und den steilen Weg hinauf nach Peist. Der Mann erbarmte sich und telefonierte aus dem Bahnhof einem Kollegen. Und schon sahen wir einen bärtigen, alten Mann mit dem Leiterwagen, der aus dem nahen Bauernhof zu uns hinunterschritt und nach einem fröhlichen Gruss unser Gepäck auf den Wagen lud. So stiessen wir, die ganze Bande gemeinsam, das kleine vollbeladene «Wägeli» den Berg hinauf. Und da standen wir vor unserer Bleibe für die nächsten fünf Wochen, die meine Mutter ungesehen gemietet hatte, weil sie uns von einer Nachbarin empfohlen worden war. Ja, wie sagt man so schön, sie hatte eine Katze im Sack gekauft. Und wie die miaute!
Als wir ankamen und meine Mutter sich etwas umgesehen hatte, vor allem als sie das baufällige WC sah, wurde ihre Befürchtung wahr. Es war eine «Knebelschi…», auch Plumpsklo genannt. Sie begann zu schluchzen und sagte bestimmt «Chind, mir fahred wieder hei.» Gretli sagte zuerst nichts und schwieg. Als sich meine Mutter etwas beruhigt hatte, meinte sie nur trocken: «Morgen kaufen wir Putzzeug und machen einfach das Beste draus.» Sie putzten einen Tag lang. Als die Bettwäsche sauber und frisch gewaschen war, wurde die Laune meiner Mutter wieder besser. Wir Kinder fanden sowieso alles nicht so schlimm, eher abenteuerlich, und erkundeten die Umgebung.
Der nächste Schock liess nicht lange auf sich warten. Sehr früh, die Sonne hatte gerade die Nacht verdrängt und den Tag erwachen lassen, erschraken wir alle gewaltig und rannten aus unseren Zimmern. Ein ohrenbetäubender Lärm, der sich als Trompetenklänge entpuppte, riss uns aus den Federn. Vor unserem Fenster, unter der wehenden Schweizer Fahne, stand ein junger Mann und trompetete sich seine Lunge aus dem Leib. Es war Toni, er wurde für uns Kinder der Liebling und Held in den Ferien. «Ich muss halt üben für eine Feier – ich spiele ein Trompetensolo und das mache ich immer noch vor dem Melken», meinte er höflich. Der Charme der beiden Frauen überzeugte den Mann, und er trompete zwar weiter, aber nach dem Melken. Immer dieselbe Melodie «Oh mein Papa». Damals ein veritabler Hit von Lys Assia. Zum Thema unserer Papas, die zwei kamen nur zwei Mal am Wochenende, nachher hatten sie wieder eine Ausrede.
Aber wir hatten ja Toni. Er nahm uns mit auf die nahe Alp, ich lernte sogar etwas melken, und bald kannten wir einige Kühe bei ihren Namen. Auch als kreativer Holzschnitzer zeigte uns Toni, wie einfach es war, eine Kuh zu schnitzen. Er lehrte uns auch, wie all die Bergblumen heissen. Ich kenne sie heute noch und konnte später meine Kinder mit meinem botanischen Wissen verblüffen.
Der Weg zum Plumpsklo führte über ein schmales «Brüggli», eigentlich war es nur ein Brett. Darunter ein richtiger Wald von Brennnesseln. So gross und dicht, wie ich sie nie mehr gesehen habe. Und es kam, wie es kommen musste, mein Bruder machte den Clown, tänzelte auf dem Brett herum und fiel recht hoch hinunter in die Brennnesseln. Wir befürchteten das Schlimmste. Doch er stand sofort auf, schüttelte sich und lächelte sogar einen Moment verlegen. Aber dann ging es los, ich habe wirklich nie mehr jemand mit so riesengrossen Brennnessel-«Püggeln» am Körper gesehen. Er hatte sicher grosse Schmerzen und jammerte und schrie wie am Spiess. Wir Kinder waren richtig geschockt. Mein Bruder war nur noch rot, er glühte förmlich. «Der muss zum Doktor, das ist ja furchtbar», meinte Gretli. Doch meine Mutter holte den griffbereiten Gartenschlauch und spritzte den armen Ueli so lange ab, bis er sich beruhigte.
Da wäre noch die Geschichte mit der 1.-August-Sonne, die meine Mutter an die Fahnenstange nagelte und bei jeder Umdrehung zischende Funken in den Nachthimmel jagte. Wir Kinder jauchzten und freuten uns. Da geschah das Unheil. Die feuerspeiende Sonne drehte sich plötzlich nicht mehr und die Fahnenstange begann zu brennen. Gut, hatten wir den Wasserschlauch bereit und konnten das Feuer löschen. Aber am anderen Morgen sahen wir es deutlich, ein Teil der Fahnenstange war schwarz angesengt. Da musste unser Toni her! Er holte seine Schleifmaschine und eine braune Holzlasur, und schon war der Schaden behoben. Den Frauen war nicht entgangen, dass Toni ein wirklich altes, abgewetztes, kaputtes Portemonnaie hatte, und sie fuhren mit dem Zug extra nach Chur. Wir Kinder durften auch mit und wir kauften ihm ein neues aus feinstem Leder. Es waren wunderbare Ferien, die wir Kinder wirklich genossen haben, mit bleibenden Erinnerungen bis heute. Ja, Ferien in der Schweiz haben ihren Reiz.