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Den Schmerz beenden, nicht das Leben

Erstellt von Céline Geneviève Sallustio |
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Wie merkt man, wenn jemand im persönlichen Umfeld suizidgefährdet ist? Beim Informationsanlass zur Küsnachter «Heb der Sorg»-Kampagne des Gemeinderats antwortet Psychologe Gregor Harbauer auf diese und ähnliche Fragen.

Ein Küsnachter Jugendlicher steht auf dem Sportplatz und schaut in die Kamera: «Dass es einem schlecht geht, ist weder eine Krankheit noch etwas Falsches», sagt er, «es ist menschlich.» Er ist einer von sieben Jugendlichen, die in ­einem Kurzfilm über ihre Erfahrungen mit ausweglosen Situationen sprechen. Der Film entstand in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Küsnacht und der Freizeitanlage Sunnemetzg im Rahmen des Aktionsplans psychische Gesundheit und Suizidprävention «Heb der Sorg». Der Kurzfilm wurde vergangenen Donnerstagabend als Auftakt zum entsprechenden Informationsanlass gezeigt. Auf Initiative hin von Gemeinderätin Pia Guggenbühl (FDP), Ressort Gesellschaft, referierte Gregor Harbauer, leitender Psychologe an der Privatklinik Hohen­egg in Meilen, über das Thema.

Drei Suizide pro Tag

Einleitend präsentierte der Suizidpräventionsexperte Harbauer einige Zahlen: «Pro Jahr kommt es in der Schweiz zu gut 1000 Suiziden, das sind fast drei Suizide pro Tag.» Oder anders gesagt: Im Durchschnitt stirbt alle acht Stunden eine Person durch einen Suizid. Im Kanton Zürich sind es 180 Personen pro Jahr.  Zum Vergleich: 2021 kamen im Zürcher Strassenverkehr 20 Personen ums Leben. «Seit Beginn der Pandemie hat die Suizidalität – insbesondere bei Jugendlichen – deutlich zugenommen, obschon die ­Suizidrate, über die Jahre gesehen, leicht rückläufig ist.»

Weiter räumte Harbauer mit einigen Vorurteilen auf: «Die allerwenigsten Menschen wollen sich wirklich das Leben nehmen», erklärt der Psychologe. Der Urinstinkt der Menschen sei es zu überleben. Ein Suizidversuch sei eine subjektive Lösung, ein Leiden zu beenden. Suizidgedanken seien eine heftige, aber nicht aussergewöhnliche Reaktion auf eine anhaltende Belastung. In einer Stresssituation kenne der Mensch zwei Bewältigungsstrategien: flüchten oder kämpfen. «Ein Suizid ist sowohl ein Fluchtversuch weg vom unerträglichen Schmerz als auch ein Angriff gegenüber sich selbst.» 

Gefährdete senden Warnsignale

Hinschauen hilft: Rund 80 Prozent der suizidgefährdeten Menschen senden Notsignale aus, bevor sie sich was antun wollen. «Das können schriftliche Hinweise sein, wie beispielsweise Abschiedsbriefe oder Testamente, oder aber auch mündliche Hinweise, wie beispielsweise aussergewöhnliche Äusserungen im Zusammenhang mit dem Sterben», erklärt Harbauer. 

Diese Warnsignale zu erkennen, sei der erste Schritt, um Betroffenen zu helfen. Nachdem man gefährdete Menschen erkannt habe, soll man sich Zeit nehmen und nachfragen, wie es ihnen wirklich gehe, erklärt Harbauer weiter. Je mehr Menschen – egal ob betroffene und nicht betroffene – über Suizidalität, also Suizidgedanken oder suizidale Lebenskrisen, sprächen, desto besser, schneller und effizienter könne den Menschen in Not geholfen werden. Zuletzt könne man suizidale Personen auf Unterstützung hinweisen und so auch sich selbst, wenn nötig, distanzieren. 

Gespräch suchen und zuhören

«Ansprechen, reden und zuhören» ist das Credo des Psychologen. Doch: Wie kann älteren, suizidgefährdeten Menschen zusätzlich geholfen werden? «Wichtig ist bei Menschen im Alter, sich mit ihren spezifischen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, um dort konkret unterstützen zu können.» Insbesondere Themen wie Einsamkeit, Isolation und körperliche Einschränkungen oder das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, beschäftigten ältere Menschen. Dort müsse man mit Hilfe von Auffangnetzen oder Beratungen und Integration Unterstützung bieten. 

Rund 20 Personen besuchten den Informationsanlass. Unter ihnen war auch Barbara Hedinger, Leiterin Beratung ­Gesundheitsnetz Küsnacht. Sie war erstaunt, dass nicht noch mehr Personen zu diesem wichtigen Thema teilnahmen. Einen Aspekt vermissten Hedinger und andere Zuhörer: «Nicht jeder Suizid ist leider erkennbar.» Manchmal blieben äussere Anzeichen aus, anerkannte auch Gregor Harbauer. Umso wichtiger sei es, sich Zeit für Menschen zu nehmen, denn jedes Gespräch könne potenziell Leben retten. Für Gemeinderätin Guggenbühl ist klar: «Corona hat die Thematik der psychischen Gesundheit noch stärker ins mediale Licht gerückt. Schwere ­Depressionen nahmen massiv zu.» In belastenden Situationen sei es deshalb wichtig, darüber zu sprechen. «Unser Aktionsplan ist niederschwellig und will alle Altersgruppen ansprechen.» 

Guggenbühl hat das Thema bereits über die Gemeindegrenzen hinausgetragen und die Sozial- und Sicherheitsvorstände des Bezirks Meilen zu einem Austausch eingeladen. In Kürze wird ­ein sogenannter Suizidrapport ins ­Leben gerufen, das heisst ein Ver­netzungs- und Austauschgefäss für ­professionell mit Suizid konfrontierte Fachpersonen.