Wie das Coronavirus eine 24 Jahre junge Finanzexpertin aus Los Angeles mit einem 67 Jahre alten Journalisten auf der Forch zur Schicksalsgemeinschaft auf Distanz verbindet.
«Bleibt zu Hause!», mahnte Gesundheitsminister Alain Berset. Insbesondere dachte er an eine runde Million Menschen, die alt oder vorerkrankt und deshalb «besonders vulnerabel» sind. «Hilfe kommt!», versprach Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Er dachte insbesondere an die vielen Milliarden Franken, mit denen er der lahmgelegten Volkswirtschaft wieder auf die Beine helfen will.
Die Hilfe steht im Garten
Wie die meisten hält sich auch ein alter Mann auf dem Küsnachterberg strikt an die Verordnung des ersten Bundesrats und bleibt zu Hause; nicht einmal zum Einkaufen – was ja noch erlaubt wäre – verlässt er das Haus. Denn die Hilfe, die der zweite Bundesrat versprochen hat, kommt auch zu ihm. Sie steht im Garten und könnte seine Enkeltochter sein: Lange, dunkle Haare umrahmen das freundliche Gesicht. «Hallo, ich bin die Sophie, und ich bring hier die Sachen.» Ein paar Meter vor der Haustür stellt sie drei Einkaufstaschen, vollgepackt mit Lebensmitteln, auf den Boden. «Nicht alles, was auf der Liste stand, habe ich finden können», entschuldigt sie sich. Der Bio-Cervelat mit Käse und Bärlauch sei ausverkauft gewesen, stattdessen habe sie eine Kalbsbratwurst eingepackt. «Ich hoffe, das passt auch!»
Er hätte sie gerne auf einen Kaffee eingeladen, ihr die Auslagen erstattet, bar auf die Hand, mit einem Händedruck und einer grosszügigen Aufrundung gedankt. Doch derlei Selbstverständlichkeiten sind in diesen Tagen amtlich untersagt. Zwischenmenschlichkeit bedeutet neuerdings zwei
Meter zwischen den Menschen. Was bleibt, sind hilflose Gesten – Lächeln, Winken, Schulterzucken. Nur Worte überwinden die verordnete Distanz. «Die Quittung liegt im Papiersack.» – «Und wie soll ich das bezahlen?» – «Ich schick dann per Mail meine Bankverbindung.» – «Danke!» – Gerne!» – «Bis bald.»
«Komm nach Hause»
Drei Tage zuvor auf der anderen Seite der Welt: Mitten in der Nacht wird die schweizerisch-österreichische Doppelbürgerin Sophie Kogler, 24 Jahre jung und frisch lizenzierte Hochschulabsolventin, in Los Angeles aus dem Schlaf gerissen – das Smartphone, schon wieder. «Komm nach Hause», insistiert ihre Mutter. «Und zwar sofort, die Lage spitzt sich zu, von Tag zu Tag. Niemand weiss, wie lange überhaupt noch Flugzeuge fliegen …»
Seit der Scheidung lebt die Mutter alleine in Küsnacht, der Vater ist in seine Heimatstadt Wien zurückgekehrt. Und auch er drängt seit Tagen auf die unverzügliche Heimkehr der Tochter. Die Eltern sind sich einig: In der Pandemie soll man zusammenstehen – und gewiss nicht alleine in Donald Trumps USA leben.
Dabei ist alles so reibungslos verlaufen: Vor vier Jahren ist Sophie Kogler nach Kalifornien gezogen, kürzlich hat sie das Studium der Finanzwirtschaft abgeschlossen. Die Tinte auf dem Diplom war kaum getrocknet, als schon das erste spannende Job-Angebot ins Haus flatterte – ein Praktikum als Sachbearbeiterin bei einer Stiftung, die Start-up-Unternehmen mit Startkapital unterstützt. Arbeitsbeginn: 1. April – kein Scherz, sondern eine Chance, die man nicht verpassen darf.
Sofort plante Sophie den Umzug, suchte eine Wohnung in San Francisco, packte den Hausrat in Kisten und Schachteln. Und dann kam Corona, das Virus, das binnen weniger Wochen den Planeten in Aufruhr versetzt hat. Und schlagartig Sophies Welt auf den Kopf stellt. «Okay», sagte sie zur Mutter. «Ich nehme die erstbeste Maschine nach Zürich.»
Küsnacht ist jetzt ihre neue Welt. Neben den kalifornischen Metropolen kommt ihr das heimatliche Dorf am Zürichsee klein und idyllisch vor. Und total unspektakulär.
Am Tag nach ihrer Ankunft liest sie im «Küsnachter» einen Bericht über Milan, der infolge der Corona-Krise arbeitslos geworden ist und jetzt seine Gemeinde mit der App «hilfe-jetzt.ch» verlinken will: Junge Leute, die vor dem Virus eher verschont bleiben und sich nützlich machen wollen, werden mit älteren Mitbürgern zusammengebracht, die sich nicht mehr in die Läden wagen, weil eine Infektion für sie lebensgefährlich werden kann. Coole Sache, findet Sophie, ich bin jung und ich habe Zeit. Und so meldet sie sich bei der Whatsapp-Gruppe an. Postwendend kommt der erste Auftrag: «Eine Frau, 90 Jahre alt, an der Gartenstrasse – sie braucht deine Hilfe.»
Ein Gespräch auf Distanz
«Diese reizende Dame und du – ihr seid meine einzigen Kunden», lacht Sophie, als sie zwei Wochen später wieder vorbeischaut. Um jedes Risiko zu vermeiden, bekommen die einzelnen Helfer möglichst wenige Klienten zugeteilt. Heute hat der alte Mann seine Terrasse so eingerichtet, dass sie mit der gebotenen Distanz einander gegenübersitzen können – und er gibt sich als Autor jenes Artikels zu erkennen, der sie zusammengeführt hat. «Hast du eine halbe Stunde?» – «Wir haben doch alle wieder mehr Zeit!» – «Dann erzähl mir deine Geschichte: Sag mir, wie Corona dein Leben verändert hat.»
Heute, fällt Sophie ein, sei der Tag, an dem sie ihre neue Stelle hätte antreten sollen. Immerhin habe sie den Job nicht aufgeben müssen: «Sie haben mir die Chance gegeben, im Homeoffice zu starten – zwischen Küsnacht und Los Angeles!» Mit ihrem Engagement für die Corona-Hilfsaktion gibt sie jener Tugend, die zwischen den politischen Lagern links zur Worthülse und rechts zum Reizwort verkommen ist, einen neuen Sinn: Solidarität. Die Solidarität der robusten Jugend mit verletzlichen Senioren macht deutlich, wie vielfältig Corona zum sozialen Spaltpilz geworden ist: Gesundheit gegen Wirtschaftlichkeit, Wohlstand gegen Wohlfahrt, Sicherheit gegen Profit, Entschleunigung gegen Wachstum.
Sophie sieht das nicht so eng. Klar, wenn man die Dramatik sieht, mit welcher sich das Virus derzeit auch in den USA verbreitet, müsse man schon befürchten, dass «da noch einiges auf uns zukommt.» Es ist auch nicht die Zeit, in der man einen selbstverliebten Narren im Zentrum der Macht sehen möchte. «Der Präsident hat die Gefahr zuerst nicht ernst genommen – und dann zu spät reagiert.» Mit grosser Besorgnis verfolgt Sophie die Ereignisse in ihrer Wahlheimat: «Morgen könnte es in Kalifornien so aussehen wie heute in New York City», befürchtet sie – und ist froh, «dass ich auf meine Eltern gehört habe und jetzt hier in Küsnacht bin.»
Immerhin, meint der alte Mann auf der Forch, werde die Welt nach Corona eine andere sein als jene zuvor: «Der Ausbruch in einem chinesischen Markt, in dem wilde Tiere gehandelt werden, beweist, wie der Mensch sich am Tier versündigt. Wenn wir aber die Natur ohne Anstand und Respekt behandeln, schlägt sie zurück.» Bei allem Leid, das es verursache, wolle das Virus offensichtlich den Planeten retten – nicht mehr und nicht weniger, aber mit allen Konsequenzen, rasch, effizient, erfolgreich. Zum Glück zeichne sich jetzt ein Paradigmenwechsel ab: «Der Lockdown beweist, dass weniger mehr sein kann: Künftig wird viel mehr digital kommuniziert und viel weniger analog um die Welt gejettet.»
Sophie hat da ihre Zweifel: «Es ist offensichtlich, dass wir auf eine massive wirtschaftliche Rezession zusteuern. Aber wir werden uns erholen. Sobald die Wissenschaft ein Medikament gegen die Krankheit und einen Impfstoff gegen das Virus entwickelt hat, wird es sehr schnell gehen, bis ein neuer Aufschwung uns dorthin bringt, wo wir eben noch waren.»
Unverhofft ist das Interview zur Stammtisch-Debatte geworden, man einigt sich darauf, dass es gut ist, wenn nicht alle dieselbe Meinung vertreten. Beim nächsten Mal, verspricht Sophie, werde sie im Laden nach dem Cervelat mit Käse und Bärlauch fragen. «Das kennen wir nicht in den USA!» (Daniel J. Schüz)