Tausend Impfungen täglich: Das Meilemer Impf-Zentrum läuft auf Hochtouren. Seit zwei Monaten kümmert sich der Küsnachter Stefan Reithaar um 150 Mitarbeitende. Wenn etwas schiefläuft, dann ist er als Erster zur Stelle. Im Notfall sogar auch mal rennend.
Die Frau mag gut neunzig Jahre alt sein. Mit einem scheuen Lächeln überreicht sie das in sauberer Handschrift ausgefüllte Formular mit den Angaben zur Person. Stefan Reithaar sitzt am Desk und stutzt.
«Haben sie das wirklich selbst ausgefüllt?»
«Ja. Warum?»
«Superman2002@hotmail.com — ist das Ihre E-Mail-Adresse?»
«Ach so. Nein – ich habe gar keinen Computer! Mein Enkel hat mich angemeldet. Werde ich jetzt nicht geimpft?»
«Kein Problem», beruhigt der freundliche junge Mann die Seniorin. «Für die Gesundheit brauchen Sie keinen Computer. Die Impfung kriegen sie auch ohne E-Mail-Adresse.»
Derlei Begegnungen bringen Freude in den Alltag des Meilemer Impfzentrums, sagt Reithaar, der gerade die Kollegin am Empfang abgelöst hat. «Aber es ist natürlich wichtig, dass wir merken, wenn etwas nicht stimmt — und sei es auch nur ein Enkel, der für die Grossmutter eine Fake-E-Mail-Adresse einträgt.»
Impfstoff kommt termingerecht
Nach zwei Monaten und einer verhaltenen Startphase treffen die Impfstoff-Lieferungen termingerecht und in der vereinbarten Menge ein. «Der Betrieb läuft reibungslos», freut sich Reithaar. «Wir sind auf Kurs.» Zwar wäre es angesichts einer Pandemie von diesem Ausmass angezeigt, rund um die Uhr möglichst schnell möglichst viele Menschen zu impfen, «doch wir tun, was wir können: Jede Dosis, die am Morgen angeliefert wird, ist am Abend verimpft, bis zu tausend Einheiten täglich.»
Kürzlich ist der Impfling Nr. 10 000 verzeichnet und mit einer kleinen Feier begrüsst worden.
Die meisten haben sich für ein Teilzeitpensum verpflichten lassen: Ärzte und Apotheker, Pflegefachleute und Studierende, Polizeibeamte und Sicherheitsexperten schieben ihre Schicht in der umfunktionierten Turnhalle nahe dem Dorfzentrum. Sie begrüssen und registrieren, lenken den Personenstrom, ziehen Spritzen auf, stechen Nadeln in Oberarme, überwachen frisch geimpfte Menschen und entlassen sie mit einem freundlichen Lächeln in eine sorglosere Zukunft.
Stefan Reithaar kennt jeden und jede der 150 Mitarbeitenden, selbst aber hat er keinen Kollegen, der ihn ablösen könnte – «nicht mal einen Stellvertreter», lacht er und fügt selbstironisch an: «Ich bin einzigartig.»
Aber was macht er nun wirklich? «Sagen wir es so: Ich bin der Frontmann im Backoffice. Oder der Mann für alle Fälle. Troubleshooter würde auch passen. Oder Joker – nirgends zugeteilt, überall einsetzbar. Auf jeden Fall bin ich glücklich, wenn der Laden reibungslos läuft und alle zufrieden sind. Dann hab ich nichts zu tun. Wenn man mich aber durchs die Gänge im Zentrum rennen sieht, dann ist irgendwo etwas gar nicht gut.»
Überall und nirgends
Er gehört zu den wenigen, die ihren Dienst von Montag bis Freitag versehen: Morgens, wenn er Spritzen und Impf-Ampullen vorbereitet, die Badges und die frische Wäsche für die Frühschicht bereitlegt, ist er einer der ersten. Und am Abend, wenn er die gebrauchten Klamotten in die Wäsche bringt und den Müll entsorgt, oft der letzte im Zentrum. Er ist überall und nirgends, immer erreichbar, selten sichtbar. Und alle 150 Mitarbeitenden wissen: Wenn der Computer abstürzt, eine Registrationsnummer fehlt oder die Tür zum wichtigsten Möbel klemmt, gibt es nur eines: Stefan rufen. Auf ihn ist Verlass – er holt verschwundene Daten auf den Schirm zurück, er knackt den vergessenen Code, und den Kühlschrank mit dem Impfstoff kriegt er bestimmt auch wieder auf.
Die Ruhe bewahren, wenn’s mal hektisch wird, eine sorgfältige Planung effizient umsetzen — das ist für Reithaar die eine Seite des Erfolgs, Zuverlässigkeit und Ordnung die andere. «Dazu gehört natürlich auch die äussere Erscheinung; deshalb mach ich schon mal eine Tenu-Kontrolle.»
Schicksalsschläge blieben nicht aus
Tönt nach soldatischer Disziplin — und der Eindruck täuscht nicht: «Ich hätte die militärische Laufbahn gerne weiterverfolgt.» Doch in der siebten RS-Woche schlug das Schicksal zu: «Ich war wohl etwas übermotiviert, stürzte mit der Vollpackung auf dem Buckel so unglücklich, dass ich noch heute darunter leide.» Von heute auf morgen war Reithaar nicht nur dienstuntauglich, er musste schweren Herzens auch seinen ersten Beruf als Metzger an den Nagel hängen: «Ich konnte die Schweinehälften einfach nicht mehr buckeln.»
Stefan Reithaar ist 32 Jahre alt und – wie er nicht ohne Stolz betont – «ebenso lange in Küsnacht verwurzelt: Am See bin ich aufgewachsen, hier fühl ich mich wohl.» Zusammen mit Gattin Martina und der Schäfer-Hündin Ayla bewohnt er das Parterre im Elternhaus, gleich neben dem Fähnlibrunnen. Sein «Dad» Noldi Reithaar, ehemaliger Küsnachter Gemeinderat, wohnt im Obergeschoss.
Wenn der Job im Impfzentrum besonders stressig war, versinkt Stefan nach Feierabend akustisch in einer der vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi — und bricht optisch zu einem Ausflug in den interstellaren Raum auf. Vor dem Hintergrund einer explodierenden Sonne zieht er in den Sternenkrieg; in fremden, Lichtjahre entfernten Galaxien wird er von Verbündeten unterstützt, die in der Realität seine terrestrischen Freunde sind. «Ich wurde halt in den späten neunziger Jahren sozialisiert. Da waren derlei Games voll angesagt. Irgendwie bin ich der Bub von damals geblieben.»
Küsnacht fehlt das Dorfzentrum
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, holt ihn dann die Realität wieder ein. Seit Reithaar den befristeten Job im Impfzentrum angenommen hat und täglich das neu gestaltete Meilemer Ortszentrum beschreitet, wird ihm bewusst, was seine eigene Gemeinde nicht hat: «So etwas wäre in Küsnacht auch möglich gewesen. Es ist ein Jammer, dass wir die Chance verpasst haben, aus dem Migros-Parkplatz ein ähnliches Zentrum zu gestalten — mit Strassen-Café, Lädeli und Sitzbänken.»
Von der Personalabteilung im Spital Männedorf, das auch für das Impfzentrum zuständig ist, hat Stefan kürzlich erst eine Nachricht bekommen: Im August, wenn das Zentrum den Betrieb voraussichtlich wieder einstellt, solle er doch bitte nicht nach einem neuen Job Ausschau halten. «Die wollen mich gleich wieder anstellen — als Betreuer für neu ankommende Patienten», freut er sich. «Ein schöneres Kompliment für meine Arbeit gibt es gar nicht — besonders an einem Tag wie heute ...»
Und dann erzählt er die Geschichte von einer anderen Frau, wohl auch um die neunzig. Sie sei ihm heute morgen im Impfzentrum begegnet — und er habe sie sofort wiedererkannt. Zuvor schon sei sie ihm oft aufgefallen, wie sie mit ihrem offensichtlich schwer kranken Mann ins Spital gegangen sei.
«Ganz allein heute? Wo ist denn der Herr Gemahl?»
«Der ist gestorben, gestern Abend», antwortet die Frau. Aber für heute sei sie zur Impfung aufgeboten worden. Aus ihren Augen schiessen die Tränen.
Da kann Stefan nicht anders: «Das tut mir so leid. Ich würde Sie jetzt einfach gerne umarmen. Und keine Angst — ich behalte die Maske an. Ausserdem bin ich ja auch geimpft.»
Die Frau nickt wortlos und öffnet dankbar die Arme, worauf Stefan Reithaar für einmal auf die gebotene Disziplin und Distanz verzichtet. Die tröstende Geste ist jetzt wichtiger als die Pandemie.