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«Die Heimat ist zur Hölle geworden»

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Die Ärztin Olena Yurchuk aus Kiew kümmert sich im ehemaligen Altersheim Sonnenhof in Küsnacht um krebskranke Kinder und behinderte Erwachsene. Die schrecklichen Bilder aus dem Krieg lassen sie nicht mehr los.

«Es gibt was Neues», sagt Alexander Lüchinger. «Leider ist es keine besonders gute Nachricht.»

Rund hundert Flüchtlinge hören ihm im grossen Saal des Sonnenhofs zu – einer Immobilie, die einst als Alterszentrum diente, später fünf Jahre lang leer stand und seit Mitte März als Unterkunft für Opfer des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine dient. Jetzt, nach hundert Tagen Krieg und drei Monaten Exil, ist im Sonnenhof so etwas wie Alltagsnormalität eingekehrt. Selbst das Schild am Eingang mit dem freundlichen Gruss «Willkommen im Sonnenhof» ist abmontiert worden.

«Since first of June, public transport is not anymore free»», erklärt Lüchinger auf Englisch, während die Übersetzerin Anna Uminska ausführt, dass die Übergangsfrist abgelaufen und das Reisen mit dem öffentlichen Verkehr ab sofort kostenpflichtig sei. «Am besten besorgt ihr euch ein Halbtax-Abo!»

Trotzdem beweist der notfallmässig reaktivierte Sonnenhof, dass Küsnacht ein Herz nicht nur für ausländische, sondern auch für handicapierte Menschen hat. Als beliebte Ersatzheimat für Expats aus dem angelsächsischen Raum war die Gemeinde schon immer bekannt. Heute ist Küsnacht  – dank der Initiative eines Unternehmers, der über Nacht zum Fluchthelfer geworden ist – ein Refugium für besonders bedauernswerte Gäste. Unter den Kriegsopfern, die Lüchingers Worten lauschen, befinden sich auffällig viele Kinder – sie leiden alle an einer Krebserkrankung und stehen unter der Obhut des Kinderspitals Zürich. Bei den anderen Ukrainern, die seit Mitte März im Sonnenhof leben, machen der Rollstuhl oder die Mimik deutlich, dass sie von körperlichen oder geistigen Einschränkungen betroffen sind.

Die Information über den nunmehr kostenpflichtigen ÖV ist für das Ärztepaar Olena Yurchuk und Olexii Dontsov keine besonders schlechte Nachricht. «Wir haben ohnehin keine Zeit, auf Reisen zu gehen», sagt Olena (30), die in der Ukraine für die Ausbildung von Pflegepersonal verantwortlich war und jetzt mit dem Männedorfer Hausarzt Dieter Burkhardt für die Gesundheit der Sonnenhof-Bewohner zuständig ist. Ihr gleichaltriger Mann Olexii, ein Magen-Darm-Spezialist, ist von der Kriegsdienstpflicht in der Ukraine entbunden worden. «Die Krankenhäuser in den Städten und die Lazarette nahe der Front brauchen jetzt vor allem Notärzte und Chirurgen», erklärt er. «Gastroenterologen sind da weniger gefragt.» Wenn er Lust auf einen Ausflug hat, setzt er den kleinen Artem in den Kinderwagen und spaziert zum See ­hinunter.

Die dramatische Flucht

Derweil fasst sich seine Frau ein Herz. Olena atmet tief durch und erzählt, wie sie den Krieg in der Ukraine erlitten hat und wie sie mit ihrer Familie in die Schweiz geflohen ist.

«Am Morgen des Tages, an dem russische Truppen unser Land überfielen, wurde ich von einem Geräusch geweckt, das ich noch nie zuvor gehört hatte: das Kreischen von Fensterscheiben, die unter den Druckwellen detonierender Bomben erbeben. Da wusste ich, dass der Krieg begonnen hatte: Von diesem 24. Februar an würde nichts mehr so sein wie es bis anhin war.»

Das Sprechen fällt ihr schwer, die Bilder, die plötzlich wieder lebendig werden, schmerzen in der Seele. «Aber es ist wichtig, dass es nicht ungesagt bleibt: Die Welt muss erfahren, was da gerade passiert», sagt sie. Und fährt fort:

«Während Panzer über die Grenze im Norden unseres Landes rumpelten, flogen Raketen über die Dächer der Hauptstadt, schlugen ein in den Wohnhäusern, wo die Menschen noch schliefen. Sirenen heulten – und das Telefon läutete: Das Militärspital, in dem mein Mann Olexii arbeitete, schlug Alarm: «Es geht los!»

Es war offensichtlich, dass die Angreifer es zunächst auf die Hauptstadt abgesehen hatten: Kiew sollte als Erstes fallen. Deshalb packten wir eiligst das Baby und die notwendigsten Habseligkeiten ins Auto und verliessen die Stadt. Da war Artem gerade mal ein halbes Jahr alt. Wir kamen nur sehr langsam voran; alle Ausfallstrassen waren blockiert. Die Menschen wollten nichts wie weg – raus aus der Stadt. In Nemishaievo, einem kleinen Vorort von Kiew, lebten Olexiis Eltern; hier fühlten wir uns einigermassen in Sicherheit – zunächst. Nemishaievo liegt zwischen Kiew und Butscha  – jenem Dorf, das mittlerweile zum Symbol für unfassbare Kriegsverbrechen geworden ist. Noch ahnten wir nicht, wie grausam die Russen auch in Nemishaievo gegen die Zivilbevölkerung vorgehen würden.

Nach drei Tagen rollten ihre Panzer ins Dorf. Die Soldaten behaupteten, die russische Armee führe ein Manöver durch; sie wiesen die Bevölkerung an, in den Häusern zu bleiben – so diese noch nicht in Trümmern lagen. Sie zerstörten zuerst die Läden, dann die Apotheke, schliesslich ganze Strassenzüge – zurück blieb nur rauchende Asche. Bei winterlichen Temperaturen unter dem Gefrierpunkt war der ganze Ort von der Strom-, Wasser- und Gasversorgung abgeschnitten worden.

Das Haus meiner Schwiegereltern verfügte über keinen Keller. Der nächste Schutzraum befand sich unter dem Schulhaus. Wenn die Sirenen aufheulten und Explosionen das Dorf erschütterten, mussten wir einen Fussballplatz überqueren, um uns zusammen mit anderen Menschen in diesem spärlich eingerichteten Raum in Sicherheit zu bringen. Der Boden bestand aus losem Sand, und der war fast so fein wie Staub. Er infizierte die Wunden der Verletzten, er verschmutzte die wenigen Lebensmittel, er lagerte sich in den Lungen ab – dieser schreckliche Sand war einfach überall. Olexii und ich versuchten, die zum Teil schwer verletzten Menschen notdürftig zu versorgen – unser jüngster Patient, ein fünf Tage altes Baby, war vom Gebärsaal direkt in den Schutzraum gekommen. Es fehlte an allem – wir hatten weder Verbandzeug noch Medikamente. Um Wasser und Holz zu holen, damit wir Babynahrung aufkochen konnten, musste Olexiis Schwiegervater den Keller verlassen und – oft unter Beschuss – einen Brunnen suchen, der Grundwasser führte.

Vor allem fehlte es an Morphium, wir konnten nicht einmal die Schmerzen der Verletzten bekämpfen. Die Direktorin der Schule hatte einen Mann hinausgeschickt; er sollte schauen, ob in den Trümmern der Apotheke noch ein Schmerzmittel zu finden war. Als er nicht zurückkam, wollte sie nach ihm schauen – und kehrte zitternd und kreidebleich zurück. Sie hatte miterlebt, wie der Mann, während er mit den Medikamenten über den Fussballplatz rannte, von einer Rakete getroffen und in Stücke gerissen wurde.

Als die Lebensmittelvorräte aufgebraucht waren, blieb uns nichts anderes übrig, als den Schutzraum zu verlassen. Von meinen Eltern, die in der Stadt Shytomir leben, rund hundert Kilometer westlich von Kiew, hatten wir erfahren, dass zwei Reisebusse unterwegs waren, um krebskranke Kinder in die Schweiz zu evakuieren – und dass man medizinische Fachkräfte suchte, damit die Kinder auf der langen Reise gut betreut werden konnten.

Das könnte unsere Chance sein. Wir wussten zwar nicht, ob die Besatzer, die überall Strassensperren errichtet hatten, uns passieren lassen würden. Wir wussten nur, dass wir den Versuch wagen mussten. Entweder lassen sie uns gewähren. Oder sie erschiessen uns. «Wenn sie uns töten», sagte ich zu meinem Mann, «habe ich nur einen Wunsch – einen schnellen Tod.» Dabei dachte ich an den Mann auf dem Fussballplatz.

Wir bedeckten das Auto mit weissen Tüchern und montierten weisse Bändel, um zu signalisieren, dass wir friedliche Zivilisten waren. 

Beim ersten Versuch liessen sie uns nicht durch. Immerhin haben sie uns auch nicht getötet. Sie haben unsere Handys kontrolliert, auf denen wir zuvor vorsorglich alle Bilder gelöscht hatten – und dann haben sie uns wieder zurückgeschickt.

Am Morgen des 8. März nahmen wir erneut all unseren Mut zusammen und versuchten es noch einmal – und diesmal klappte es: Die Wegelagerer liessen uns weiterfahren.

Die Strasse von Kiew nach Shytomir führt durch ausgedehnte Wälder und weite Felder; die Autofahrt dauert normalerweise kaum mehr als eine Stunde. Diesmal jedoch mussten wir immer wieder neue Routen suchen, weil entweder eine Brücke gesprengt oder die Strasse von Panzern blockiert war.

Es war schon dunkel, als wir bei meinen Eltern in Shytomir ankamen. Und es sollte noch eine Woche dauern, bis wir in der polnischen Grenzstadt Lublin einen der beiden Schweizer Reisebusse besteigen und die lange Reise durch die Nacht nach Küsnacht antreten konnten.

Am 17. März, kurz nach neun Uhr morgens, erreichten wir den Sonnenhof – und fanden uns wieder in einer anderen Welt, in einem anderen Leben. Und doch nur eine Nachtreise von der Heimat entfernt, die zur Hölle geworden ist.»

Zu den Eltern und Schwiegereltern, die in der Ukraine zurückgeblieben sind, hält Olena engen Kontakt, das Smartphone ist ihr wichtigster Begleiter.

«Ich muss doch wissen, wie es meinen Lieben in der Heimat geht. Aber vom Krieg möchte ich nichts mehr erfahren – nichts hören, nichts lesen. Sonst kommen die schrecklichen Bilder wieder zurück – Bilder, die man zwar auf dem Handy löschen, aber nicht aus dem Kopf verbannen kann: Panzer, die zwischen den Bäumen am Waldrand lauern und deren Kanonenrohre jedes vorbeifahrende Auto anvisieren. Ausgebrannte Autos auf der Strasse. Und Menschen, die zwischen diesen Wracks liegen. Wir konnten ja nicht einmal aussteigen, um zu schauen, ob sie noch am Leben waren.»

Die wirklich schlechten Nachrichten sind auf Papier gedruckt, sie flimmern jeden Tag über die Bildschirme. Es sind apokalyptische Bilder, die in den Albträumen lebendig werden – immer wieder.

Olena Yurchuk schlägt keine Zeitung mehr auf, um jedes Fernsehgerät macht sie einen grossen Bogen.