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«Die Kirche sollte ihre Basis befragen»

Erstellt von Manuela Moser |
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Pfarrer Andrea Marco Bianca über die vielen Kirchenaustritte nach dem politischen Engagement der Kirchen im KVI-Abstimmungskampf, über seinen Facebook-Post, der eine Welle von Kommentaren auslöste, und wie die Kirche verantwortungsvoller mitmischen sollte bei allem «Weltlichen».

 

Andrea Marco Bianca, Sie machen sich wegen der hohen Austrittszahlen Sorgen um die reformierte Kirche. So jedenfalls schrieben Sie auf Facebook – und lösten damit eine Welle an Kommentaren aus. Bereuen Sie inzwischen Ihren Post?

Nein, im Gegenteil. Auf Facebook habe ich auch mit kirchenfernen Menschen Kontakt. Durch ihre Kritik in den Kommentaren lerne ich viel dazu. Und sie wiederum erkennen an meinen Antworten, dass ich sie ernst nehme. Das ist entscheidend. Denn nur etwa 10 Prozent unserer Mitglieder besuchen kirchliche Veranstaltungen. Ohne den Kontakt zu den anderen 90 Prozent besteht die Gefahr, dass wir uns etwas vormachen.

Die Austritte könnten – so schreiben Sie selber – wegen des politischen Engagements der Landeskirchen im Abstimmungskampf zur Konzernverantwortungsinitiative, kurz KVI, erfolgt sein.

Davon bin ich aufgrund der Austrittsgespräche überzeugt. Das bestätigen mir auch Kollegen aus anderen Gemeinden. Meine Sorge ist, dass solche Austritte aus politischen Gründen weiter zunehmen. Das wäre fatal. Denn was viele nicht wissen: Es gibt auch Kirchenleitungen und Pfarrpersonen, die gegen ein kirchliches Engagement bei der KVI waren. Wegen der Plakate an Kirchtürmen und der Parolen in den Medien ging das unter.

Was zur Grundfrage führt: Soll die Kirche sich überhaupt in politische Debatten einmischen?

Aus meiner Sicht soll sich die Kirche mit ihrer Ethik auch öffentlich vernehmen lassen. Als öffentlich-rechtliche Institution soll sie sich aber nicht direkt mit ­Parolen in die Partei- und Abstimmungspolitik einbringen. Diese Sicht hat die Bundeskanzlei im Blick auf die KVI diese Woche mit ihrer Stellungnahme tendenziell bestätigt: Das Engagement der Kirchen bei der KVI sei in Ausmass und Form zumindest «grenzwertig» gewesen.

Was bedeutet diese Einschätzung für die Kirche bei zukünftigen Abstimmungen?

Wir müssen zwei Fragen klären. Erstens: Wer ist Kirche? Aus reformierter Sicht bilden nicht die Kirchenleitungen und die Pfarrpersonen den Kern der Kirche, sondern die Mitglieder. Das heisst: Die Mitglieder sind als Basis zu befragen, bevor sich die Kirche überhaupt äussert. Zweitens: Was ist Politik? Aus meiner Sicht kann die Kirche zu einer vertieften Meinungsbildung und verbesserten Entscheidungsfindung in gesellschaftlichen Fragen beitragen. Die konkrete politische Entscheidung selbst hat sie jedoch den Mitgliedern zu überlassen.

Und wie soll das sichergestellt werden?

Die Evangelische Kirche Schweiz, EKS, ­unser Dachverband, sollte keine Abstimmungsparolen herausgeben. Damit riskiert sie nicht nur weitere Austritte, sondern auch, dass es zu innerkirch­lichen Konflikten kommt. Was es hingegen von der EKS braucht, sind fundierte Argu­mentarien mit theologisch-ethischen ­Kriterien. Diese sollen Kirchgemeinden unterstützen, zum Beispiel um kontradiktorische Podien zu veranstalten. In Küsnacht, Erlenbach und Herrliberg tun wir das mit der Plattform «Werte & Trends» bei allen brisanten gesellschaftlichen Fragen.

Was bietet die Kirche heute den Menschen noch – für Jung wie Alt?

Die Kirche bietet Rituale bei Lebenswenden, Spiritualität bei Lebensfragen und Ethik bei Lebensentscheiden. Auf diese dreifache Weise kann sie – im besten Fall – eine gesellschaftlich relevante Grösse zwischen Politik und Wirtschaft sein. Ihre Rolle ist die einer Brückenbauerin, um Menschen mit unterschiedlichen politischen Meinungen zusammenzuhalten. Und zwar mit christlichen Grundwerten, welche von ihren Mitgliedern geteilt werden. So bildet sie eine Wertegemeinschaft mit der Besonderheit des Vertrauens auf eine höhere Macht. Dies ist eine Kernkompetenz, welche keine Partei oder NPO/NGO hat.

Und welches sind diese Werte und wie zeigt sich diese höhere Macht?

Für mich persönlich sind es die Werte Glaube als Vertrauen, Liebe und Hoffnung, verbunden mit Gerechtigkeit. Erkennen können wir die für uns wesent­lichen Werte an ihrer Wirkung: Wenn sie uns Kraft und Orientierung schenken, dann sind wir ihnen auf der Spur. Um Gott als höhere Macht zu erfahren, müssen wir uns Klarheit verschaffen, wie sie sich zur menschlichen Kraft verhält. Das ist eine Herausforderung, denn die Bibel gibt uns Impulse dazu, aber keine Rezepte. Die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse sind ganz andere als vor zweitausend Jahren.

Hat die Corona-Krise wieder mehr Menschen zur Kirche gebracht? In Zeiten der Not ist das tendenziell der Fall.

Eintritte gab es bisher nur vereinzelte. Aber ja, in der Not ist der Kontakt zu zahlreichen Mitgliedern intensiver geworden. Wir pflegen diesen vor allem telefonisch und schriftlich. Und auch nach unseren Onlinegottesdiensten erhalten wir viele Reaktionen. Bei einigen kommt es so zu vertieften Gesprächen und konkreten Hilfeleistungen. Der Glaube an Gott wird dabei vermehrt in Frage gestellt: Wie kann Gott so etwas zulassen, warum greift Gott nicht ein? Hier haben wir Pfarrpersonen die Aufgabe, diese Fragen nicht vorschnell zu beantworten, sondern sie auszuhalten. Im Idealfall ergibt sich dadurch eine notwendige Glaubensentwicklung.

Der «Küsnachter» startet ab nächster Ausgabe eine wöchentliche Pfarrkolumne. Pfarrerinnen und Pfarrer der ­umliegenden Gemeinden sollen wieder direkt zu den Menschen sprechen können. Werden die Menschen diese lesen?

Wir werden uns bemühen, gerade auch Menschen, die nicht in die Kirche gehen, anzusprechen. Es werden keine Predigten sein, denn was oft auch vergessen geht: Der Gottesdienst ist nicht das einzige Handlungsfeld der Kirche. Ebenso wichtig sind Seel- und Sozialsorge, Spiritualität und Bildung sowie Gemeindeaufbau. Da gibt es viel zu erzählen und zu entdecken.

Und dennoch: Wie predigen Sie sich selber gut zu, wenn Sie sich mit belastenden Fakten wie gehäufte Kirchenaustritte – die ja schon seit Jahren ein Trend sind – zurechtfinden müssen?

Ich predige mir täglich: «Gib nicht auf! Frage nach! Lerne dazu!» Die Reformierte Kirche ist nur dann reformiert, wenn sie sich selber immer wieder neu re-formiert. Es gilt, die tiefen Sehnsüchte wahrzunehmen und die echten Bedürfnisse aufzunehmen, welche Menschen in sich tragen. Und dafür müssen wir Pfarrpersonen zumindest erahnen, was die Menschen im Arbeitsalltag und in der Frei- und Fe­rienzeit wirklich beschäftigt.

Warum würden Sie heute der Kirche beitreten beziehungsweise als Mitglied in der Kirche verbleiben?

Die Kirche kann für unseren Lebenssinn ein gesellschaftlicher Orientierungsraum sein und für unsere Lebensfreude ein persönlicher Kraftort. Die Reformierte Kirche lässt uns dabei viel Freiheit. Sie ermutigt uns, den Glauben so zu entwickeln, dass wir ihn als Lebenshilfe erfahren. Das schätze ich.