Gerade rechtzeitig auf Weihnachten können die Küsnachter wieder zusehen, wie die Zeit vergeht. Nach exakt drei Monaten ist das frisch renovierte Uhrwerk der reformierten Kirche zurück im Turm. Und dann blieb sie wieder stehen.
Im Glockenstuhl des Wiener Stephansdoms hängt die über zwanzig Tonnen schwere «Pummerin», so nennen die Österreicher liebevoll eine der weltweit mächtigsten Kirchenglocken. An den Turmfassaden der Zürcher St.-Peter-Kirche rotieren die Uhrzeiger auf den vier achteinhalb Meter durchmessenden Zifferblättern an Europas grösster Kirchturmuhr. Und im Vatikanstaat steht die St.-Anna-Kapelle direkt gegenüber der Unterkunft der päpstlichen Schweizergarde.
Die Frage mag etwas seltsam tönen: Was verbindet die berühmten Gotteshäuser in Wien, Zürich und Rom mit der reformierten Kirche von Küsnacht? Dafür ist die Antwort denkbar simpel: Muff.
Muff hält Uhrwerke auf Trab
Die renommierte Kirchentechnik-Firma Muff AG im aargauischen Triengen hält die Uhrwerke von grossen und berühmten, aber auch solche von ganz normalen Kirchen auf Trab. Als Mitte September die Zeiger am Küsnachter Kirchturm zunehmend langsamer rotierten und schliesslich ganz stehen blieben, liess die Kirchgemeinde die Uhr von Muff-Fachleuten begutachten. Pfarrer Andrea Marco Bianca, der von seinem katholischen Kollegen auf die erlahmten Uhrzeiger aufmerksam gemacht worden war, hatte spontan die Idee, die erstarrte Zeit mit einer symbolischen Botschaft zu verbinden: «Wir stellen die Zeiger nicht wie üblich auf zwölf Uhr», regte er an. «Wir geben den Menschen zu verstehen, dass es fünf vor zwölf ist – und jeder kann für sich entscheiden, was das für ihn bedeutet.»
Kirchenturmtechniker Thomas Burkart fühlte sich, als er die Mechanik des Uhrwerks unter die Lupe nahm, an seine Jugend erinnert: «Dieses Uhrwerk ist eines der letzten, das vor 75 Jahren in Andelfingen gebaut worden ist. Die Firma Mäder, die traditionsreichste Turmuhrenfabrik der Schweiz, ist bekannt für höchste Qualität, ich bin im Nachbardorf aufgewachsen und habe dort als Kirchturmtechniker angefangen.»
In den frühen 80er-Jahren, als die Sommerzeit eingeführt wurde, sind viele Kirchturmuhren mit Elektromotoren ausgestattet worden. Damit wurden die robusten mechanischen Uhrwerke reparaturanfällig. Auch die Küsnachter Uhr ist mit einer elektronischen Steuerung versehen worden – und das mit gleich zwei Motoren: Einer treibt ganz oben, wo das Zifferblatt mit dem Gesicht des Kirchturms verglichen werden kann, die Zeiger an, während der andere rund sechzehn Meter weiter unten, wo mit dem Uhrwerk das Herz der Kirche schlägt, gewissermassen als Schrittmacher eingesetzt war. «Diese Motoren», erklärt Burkart, «haben begonnen, Probleme zu machen. Deshalb beschlossen wir, die Uhr wieder in ihren ursprünglichen, rein mechanischen Zustand zurückzuversetzen.»
Aufwendige Revision
Vor 75 Jahren, als das Uhrwerk zum ersten Mal im Küsnachter Turm eingebaut worden war, stellte die Firma Mäder rund 3500 Franken in Rechnung. Die Revision, die im Wesentlichen den ursprünglichen Zustand wieder herstellte, kostet heute grob geschätzt das Zehnfache.
Als Erstes hat Kirchturmmechaniker Burkart die «5-vor-12-Mahnung» des Pfarrers korrigiert und alle acht Zeiger auf die 12-Uhr-Position gesetzt, «weil wir nur so sehen können, ob die Zeiger präzise aufeinanderpassen und damit auch jede andere Uhrzeit korrekt anzeigen.» Pfarrer Bianca konnte damit gut leben: «Die Botschaft ist ja rübergekommen – und die pandemische Situation hat sich tatsächlich auch immer mehr Richtung allerhöchste Zeit entwickelt.» Für Burkart und seinen Kollegen Roy Schmid begann nun die liebevolle und kräftezehrende Kleinarbeit: Noch im Kirchengestühl zerlegten sie die drei Schlagwerke – eines ist für den Viertelstunden-, das andere für den Stundenschlag, das dritte schliesslich für das Uhrwerk selbst zuständig – in ihre 250 Einzelbestandteile. Sie schleppten die nahezu 300 Kilo schweren Zahnräder und Bolzen und Schrauben hinunter zum Lastwagen, setzen sie wieder zusammen, transportierten das komplette Uhrwerk in die Firma nach Triengen, nahmen es erneut auseinander, wuschen sorgfältig alle Zahnräder und ölten sie ein. «Manche Teile mussten auch ersetzt werden», sagt Burkart. «Das heisst konkret: Weil es gar keine Ersatzteile gibt, haben wir die entsprechenden Rohlinge selbst hergestellt.»
Und dann das Ganze in umgekehrter Abfolge. Bevor das Transmissionsgestänge montiert wird, das das Uhrwerk auf halber Turmhöhe mit den Glocken und den Uhrzeigern unterm Dach verbindet, muss die Uhr exakt eingestellt werden. Wie bei den meisten Kirchen und Schulhäusern ist auch im Küsnachter Kirchturm ein Sender auf den Funkturm ausgerichtet, der das offizielle Zeitsignal der Atomuhr in Frankfurt überträgt und «im Rahmen der Mechanik einer Kirchenuhr eine Ganggenauigkeit von fünf Sekunden gewährleistet», verspricht Thomas Burkart.
«Man muss warten können»
Pfarrer Bianca will das so genau gar nicht wissen: «Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es hier mit einer Kirchenuhr zu tun haben. Die darf zwar durchaus präzise sein. Aber es gibt auch eine Kirchenzeit, und bei der kommt es nicht auf die Sekundengenauigkeit an. Da ist die Verhältnismässigkeit wichtig, da geht es auch um Zeit haben, um Geduld haben, um warten können.»
Er steht in seinem Kirchturm vor dem frisch renovierten Uhrwerk, dreht verspielt an den Zeigern einer handtellergrossen Uhr, über die er die grossen Zeiger einstellen kann, lässt sie auf der «Fünf-nach-zwölf-Position stehen – und es ist, als wolle er zu einer Weihnachtspredigt ansetzen, als er sagt: «Wir können nicht wissen, wofür es vielleicht schon zu spät ist. Wir wissen nur, dass wir in und mit dieser verrückten Zeit leben müssen – eine buchstäblich ver-rückte Zeit: Wie damals schon, vor zweitausend Jahren, als eine gewisse Maria nicht wissen konnte, wann genau sie gebären würde. Wir können die Weihnachtszeit nicht mit Präzision erfassen – das geht, gerade heute, nur mit Gottvertrauen.»
Zumindest das Vertrauen auf die Unfehlbarkeit der Technik wurde bereits übers letzte Adventswochenende erschüttert: Der Blick zum Kirchturm zeigte am Montagmorgen auf drei Zifferblättern die korrekte Zeit an – lediglich die Zeiger des vierten, dem Sonnenaufgang zugewandten Zifferblatt, verharrten bewegungslos auf der Elf-Uhr-Position.
Schon wieder kaputt, die Kirchturmuhr – was will sie uns wohl sagen?
«Vielleicht sagt sie», mutmasst Pfarrer Bianca, «dass wir hoffen dürfen. In der Numerologie steht die spirituelle Zahl Elf für Neuanfang!»
«Mit Sicherheit sagt sie», weiss Experte Thomas Burkart, «dass beim Zeigerwerk ein Ringgelenk gebrochen ist. Wir haben es ersetzen können. Jetzt kann die Uhr für die nächsten 300 Jahre problemlos weiterlaufen!»
Was ja nur beweist, dass der Pfarrer nicht der Einzige ist mit seinem Gottvertrauen.