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Die mutige Reise in die eigene Geschichte

Erstellt von Isabella Seemann |
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Mit ihrem neuen Roman «Seinetwegen», nominiert für den Deutschen und Schweizer Buchpreis, sorgt Zora del Buono (61) erneut für Aufsehen. Am 28. November kommt sie nach Küsnacht und liest in der Buchhandlung Wolf aus ihrem autofiktionalen Werk.

Die renommierte Schriftstellerin Zora del Buono begeistert mit ihrem neuesten Roman «Seinetwegen» die Literaturwelt und hat es gleich auf die Nominierungslisten für den Deutschen Buchpreis und den Schweizer Buchpreis geschafft. In ihrem autofiktionalen Werk begibt sich die 61‑jährige Autorin auf die Suche nach dem «Töter». So nennt sie den Mann, der durch sein waghalsiges Überholmanöver das Leben ihres Vaters auslöschte, als sie erst acht Monate alt war. Dabei spürt sie den Folgen nach, die eine solche Tragödie im Leben von Menschen anrichtet.

Im Gespräch mit dem «Küsnachter» ­gewährt Zora del Buono, die in Zumikon aufgewachsen ist, Einblicke in die Entstehung ihres Romans, ihre Inspirationsquellen und die Bedeutung von Literatur in herausfordernden Zeiten.

Zora del Buono, Sie sind in Zumikon aufgewachsen, nur einen Katzensprung von Küsnacht entfernt, wo viele Ihrer Freundinnen und Freunde lebten. Wenn Sie an Ihre Jugend in dieser Gegend zurückdenken – welche Bilder tauchen auf?

Zora del Buono: Zwei Dinge: das Tobel und mein Töffli. Meine beste Freundin wohnte am Eingang des Tobels in Küsnacht, wir streiften drin rum, auch im Dunkeln, als Mutprobe. Und mein bester Freund wohnte in Itschnach, den besuchte ich auf meinem Puch 2‑Gang. Sowieso fuhren wir viel Töffli, das Freiheitsgefühl war unglaublich. Mit dem Freund, Nikolaus Gelpke, gründete ich Jahrzehnte später die Zeitschrift «mare», er als Ver­leger und Chefredakteur, ich als Kulturredakteurin. Damals lebte er in Kiel und ich in Berlin. Wir arbeiten heute noch zusammen.

Als Halbwaise und Kind einer verwitweten, alleinerziehenden Mutter haben Sie Ihre Umgebung sicher anders wahrgenommen als viele Ihrer Altersgenossen. Inwiefern hat das Fehlen eines Elternteils Ihre Kindheit geprägt, und glauben Sie, dass diese Erfahrung auch Ihre literarische Stimme auf besondere Weise beeinflusst hat?

Ganz bestimmt. Ich war immer die ohne Vater. Zudem wussten alle, dass er aus Italien stammte. Während es damals üblich war, dass man zu Hause Weihnachten feierte, reisten wir, statt in Zumikon zu bleiben, nach Bari zu den Grosseltern. Für mich war das die ganz grosse Welt. Meine Mutter hat nie mehr geheiratet, was die Leute befremdlich fanden. Aber das Anderssein schärft den Blick. Dass ich im Schreiben meine Ausdrucksform fand, liegt auch an meinem Deutschlehrer im Gymnasium. Er machte uns Bücher als Orte der Horizonterweiterung schmackhaft. Wäre ich musikalisch begabt, hätte ich mich vielleicht in der Musik ausgedrückt. Oder im Tanz. Es gibt viele Möglichkeiten, die Welt zu verarbeiten.

«Seinetwegen» ist eine literarische Auseinandersetzung mit dem Verlust Ihres Vaters: Als Sie ein Baby waren, kam er bei einem Unfall, den ein Raser verschuldete, ums Leben. Wieso ist nun, nach 60 Jahren, die Zeit reif, uns Ihre Geschichte zu erzählen?

Das langsame Verschwinden meiner Mutter, die an Demenz leidet, spielt eine Rolle. Dadurch, dass ich sie verliere, ist eine Leerstelle entstanden, die ich wohl unbewusst mit meinem Vater füllen wollte, um ein Gefühl von Familie zu erhalten. Wir sprachen früher kaum über ihn, weil ich als Kind Mutters Trauer nicht aushalten konnte. Mir wurde schmerzlich klar, dass ich sie nichts mehr fragen kann. Über ihn, über den Unfall, über den Verursacher. Also musste ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Ich fuhr zufällig durch die Gegend, wo es passiert ist, und dachte plötzlich: Vielleicht lebt der Mann ja noch, der Vater totgefahren hat! Was ist aus ihm geworden? Mir wurde klar: Ich weiss nichts. Und ich will mehr wissen.

Hilft das Schreiben herauszufinden, wer Sie sind?

Hätte ich das Buch mit 25 geschrieben, hätte mich das sicher stärker verändert. So kann ich sagen: Was sich herauskristallisiert, ist eine gewisse Traurigkeit, die ich vorher nicht spürte, nicht spüren konnte. Nicht Trauer. Sondern Traurigkeit darüber, dass ein Mensch sein Leben mit 33 verliert. Und dass so ein Unfall das Leben vieler Leute beschädigt. Dass es andauernd passiert und achselzuckend hingenommen wird. Autounfälle werden leider wie Naturereignisse betrachtet.

Wie war es nun, dieses Buch zu schreiben, das viel Reflexion, auch über das eigene Leben, abverlangte?

Hätte ich nur über das Unglück, über uns, über mich geschrieben, wäre das zu sehr Nabelschau geworden. Wen interessiert das schon? Aber ich bin sprunghaft im Denken, ich lese oder sehe etwas, finde es unglaublich interessant, gehe der Sache nach, entdecke Neues, erinnere mich an Altes. So konnte ich über vieles schreiben, auf das ich bei den Recherchen stiess, über den Käfer Herbie, über den Erfinder der Kopfstütze, über das Berliner Nachtleben, sogar über Kühe und Alpabzüge. Diese Nebenstränge waren auch Atempausen für mich selbst, um mich vom Persönlichen zu distanzieren und diese rasende Recherchereise, die sich anfühlte wie ein Krimi, zu entschleunigen. Zudem sind Themen wie Schicksalsschläge, Umgang mit Verlust, mit Demenz und so weiter universell, das merke ich auch an den Reaktionen der Leser und Leserinnen.

Wie gehen Sie mit den Reaktionen der Leser um, insbesondere wenn diese tief in Ihre persönlichen Erfahrungen eindringen?

Das muss sich erst setzen. Ich erfahre so viel Neues, ich könnte ein episches Postskriptum schreiben. Menschen erzählen mir ihre persönlichen Geschichten, die teilweise an Dramatik kaum zu überbieten sind. Und es melden sich Leute, die meinen Vater kannten. Sie erzählen mir lustige Details, zum Beispiel, dass er barfuss Tennis spielte. Und sie erzählen mir Dinge, die ich verdrängt oder schöngeredet habe. Das ist teilweise irritierend. Das Bild, das man von sich selbst als junger Mensch hat, stimmt nicht unbedingt mit der Realität überein.

Kann man durch das Lesen von Literatur Lebenserfahrung sammeln wie durch eigenes Erleben?

Vielleicht ist es so: Wenn ich etwas erlebe, das mich bewegt, erinnere ich mich oft an Literatur, die das beschrieben hat. Und ich fühle mich nicht allein in dem Erleben. Man kann es sich gewissermassen zu zweit gemütlich machen.

Ihr Roman «Seinetwegen» wurde für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert. Hat diese doppelte Anerkennung Ihre Beziehung zu diesem Werk verändert?

Ja, es hat mich erst mal verstört, ich geriet in leichte Panik. Ich wollte doch nur ein kleines, intimes Buch über meine Eltern schreiben – und plötzlich wurde es viel grösser und ich muss lernen, mit dieser Aufmerksamkeit umzugehen. Aber es geht beim Schreiben ja auch um Sprache, um Rhythmus, um Erzählweise. Wenn Rezensenten nicht nur über das Biografische schreiben, sondern auch darüber, wie das Buch gebaut ist, freut es mich besonders. Im Herzen bin ich immer noch die Architektin, die gern konstruiert.

Max Frisch studierte wie Sie Architektur an der ETH, bevor er Schriftsteller wurde. Zum Schluss eine Frage aus seinem «Fragebogen»: Was fehlt Ihnen zum Glück?

Dass wir die Tiere und die Natur besser behandeln.

 

Zora del Buono liest aus ihrem Roman «Seinetwegen». Buchhandlung Wolf, Küsnacht. Donnerstag, 28. November, 19 Uhr, Eintritt: 15 Franken. Anmeldung dringend empfohlen: mail@wolf.ch

Von der Architektur zur Literatur

Die 1962 in Zürich geborene Zora del Buono, Tochter einer Schweizerin und eines italienischen Arztes, der 1963 bei einem Autounfall ums Leben kam, wuchs in Zumikon auf und studierte Architektur an der ETH Zürich und der Hochschule der Künste in Berlin, wo sie nach dem Diplom als Architektin und Bauleiterin arbeitete. 1996 war sie Mitgründerin des Meer-Magazins «mare». Ihr Debütroman «Canitz’ Verlangen» erschien 2008. Der Durchbruch gelang ihr mit der Novelle «Gotthard» (2015). Ihr neues Buch «Seinetwegen» erschien im Juli im Verlag C.H. Beck und wurde für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis 2024 nominiert. Zora del Buono wohnt mit ihren beiden Hunden in Zürich-Oerlikon.

 

Website der Autorin:

www.zoradelbuono.de