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«Die Werte verschieben sich jetzt»

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Die Gemeinde Küsnacht hilft dem Gewerbe finanziell. Der Gemeindepräsident sagt, wie er der Bevölkerung sonst noch Hoffnung machen will.

Markus Ernst, der Bundesrat hat Ende vergangener Woche entschieden, auch den Selbstständigen, den Freischaffenden und den Temporärmitarbeitenden finanzielle Unterstützung zu bieten. Küsnacht will nun seinen Teil dazutun, um das Gewerbe zu unterstützen. Wie?

Der Gemeinderat möchte verhindern, dass aufgrund des Coronavirus Geschäfte zur Aufgabe gezwungen werden. Wir haben uns entschlossen, jeden Fall individuell zu prüfen und ergänzend oder überbrückend zu den Massnahmen von Bund und Kanton finanzielle Mittel – konkret 300 000 Franken – zur Verfügung zu stellen. Dazu gehören auch Massnahmen, dass wir beispielsweise als Vermieter von Liegenschaften kulant sind gegenüber Mietern, welche derzeit keine Erträge erwirtschaften können. Für Einzelpersonen gibt es schon heute wirksame Instrumente im Bereich der wirtschaftlichen Hilfe. Die Herausforderung für die Verwaltung besteht darin, die rasche und zusätzliche Zunahme an Gesuchen bearbeiten zu können.

Kann die wirtschaftliche Katastrophe abgewendet werden und wer «blutet» in Küsnacht besonders?

Unser Ziel ist es, dass aufgrund des Virus kein Geschäft schliessen muss. Besonders betroffen sind Gastronomie und Detaillisten. Mit Hauslieferdiensten kann nicht überall ein Teil des Ausfalls kompensiert werden. Auch Selbstständige in verschiedenen Berufen sind sehr stark betroffen.

Beschreiben Sie das genaue Vorgehen, wie man sich für das Hilfspaket, das der Gemeinderat ausspricht, bewirbt.

Wir werden jeden Fall individuell und einzeln prüfen. Der genaue Ablauf ist noch in Arbeit, wird aber zeitnah kommuniziert.

Kann es sein, dass zu einem späteren Zeitpunkt noch mehr Geld gesprochen wird, beispielsweise die ZKB-Dividende?

Es ist genug Geld für die notwendigen Massnahmen vorhanden.

Wie funktioniert die Gemeindeverwaltung in diesen Tagen?

So wie alle Betriebe, sind auch wir aufgefordert, so vielen Mitarbeitenden wie möglich Homeoffice zur Verfügung zu stellen. Unsere interne IT hat hier einen grossartigen Effort geleistet. Gleichzeitig müssen wir in der Lage sein, gewisse Dienstleistungen jederzeit aufrechtzuerhalten beziehungsweise vor Ort anzubieten. Hier gehen wir anhand eines vorbereiteten Pandemieplanes vor. Anwesend sind nur die Mitarbeitenden, die es wirklich physisch am Arbeitsplatz braucht. Die Bürgerinnen und Bürger sind aufgefordert, unsere digitalen Kanäle zu nutzen und Fragen an die Verwaltung per Telefon zu stellen.

Wie sieht Ihr persönlicher Alltag aus?

Er ist derzeit von Corona dominiert – insbesondere bereiten wir im Hintergrund das Gesundheitswesen auf eine grosse Belastung vor. Dazu arbeiten wir mit allen Gesundheitsakteuren der Gemeinde zusammen (Hausärzte, Spitex, Samariterverein, Zivilschutz, Alters- und Gesundheitszentren), besprechen uns regelmässig in einer Videokonferenz und sind in direktem Kontakt mit den Spitälern Männedorf und Zollikerberg. Persönlich verpflege ich mich viel mehr zu Hause, und meine sozialen Kontakte finden vor allem über Telefon und Video statt. Ausserdem werden meine Hände gereinigt wie noch nie.

Gibt es in Ihrem Umfeld schon von Corona Betroffene?

Wir sind ja alle betroffen.

Haben Sie selbst Angst? Hören Sie aus der Bevölkerung, dass sie Angst hat? Und wie sind Sie in Kontakt mit der Bevölkerung?

Nein, ich habe keine Angst. Aber ich mache mir grosse Sorgen um die vielen Menschen, die zur gefährdeten Gruppe gehören, und um das Aufrechterhalten der Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitssystems. Wir richten die Massnahmen der Gemeinde konsequent darauf aus, Ansteckungsketten zu unterbrechen und mitzuhelfen, die Kurve der neuen Ansteckungsfälle abzuflachen. Und dann gibt es noch wichtige Berufsgruppen, die sehr grossen Belastungen ausgesetzt sind. Wir müssen Sorge tragen, dass wir diese Betroffenen nicht überstrapazieren.

Wird diese Krise unsere Gesellschaft und unsere Arbeitswelt verändern?

Das tut sie schon jetzt. Ich spüre, dass althergebrachte Werte wie Gemeinschaft, Engagement und Solidarität in den letzten Jahren grassierenden Individualismus und die Spassgesellschaft ablösen. Und bei uns machen wir einen grossen Sprung in der Digitalisierung. Seit letzter Woche finden alle Behördensitzungen mittels Videokonferenz statt. Auch unsere Konzertreihe wird aus dem Seehof per Video übertragen – es gibt unzählige solcher Beispiele. Wobei ich mich bei allem technischen Fortschritt schon jetzt wieder freue, die Leute direkt zu sehen und Künstler live zu erleben.

Was ist Ihre Hoffnung, und wie sprechen Sie dieser Tage Hoffnung aus?

Bis jetzt ist es uns in der Gemeinde gut gelungen, die Lageentwicklung zu antizipieren und mit geeigneten Massnahmen auf die sich überschlagenden Ereignisse zu reagieren. Wir haben die Lage vorerst unter Kontrolle und sind so weit möglichst vorbereitet auf das, was noch auf uns zukommt. Wenn wir alle weiterhin solidarisch sind und einander unterstützen, werden wir diese Krise meistern. Hoffnung alleine reicht aber nicht in allen Fällen. Wir haben deshalb eine Hotline (Telefon 044 910 78 26, siehe auch Flyer Seite 2, Anm. d. Red.) eingerichtet. Über diesen Dienst bringen wir freiwillige Helfende und Personen, die in der aktuellen Situation Unterstützung benötigen, zusammen. Niemand soll sich selber überlassen sein.

Die Umwelt profitiert von unserem momentanen Verhalten – keine Flüge, keine Reisen, keine Aktivitäten. Viele sagen, man hätte auch für die Rettung der Umwelt so drastisch reagieren sollen wie jetzt für Corona. Halten Sie diese Aussagen für zynisch?

Ja. Corona ist ein kurzfristiges Problem, auch wenn eine Wiederholung nicht auszuschliessen ist. 80 Prozent der Wirtschaft funktionieren so weit normal, 20 Prozent sind zum Teil sehr stark betroffen, und es gibt viele Menschen, die mit existenziellen Problemen kämpfen. Umweltanliegen sind ein langfristiges Thema, welches alle angeht. Einen Vergleich finde ich fehl am Platz.

Auf wie lange stellen Sie sich persönlich ein in diese Krise?

Wir beziehungsweise die Experten rechnen mit einer Zunahme der Ansteckungsrate bis etwa 20. April und dann wieder mit einer langsamen Abflachung. Wann dann wirklich alles vorbei ist, wissen wir nicht. Auf alle Fälle stehen uns die schwierigen Wochen noch bevor. Dabei wünsche ich uns allen Geduld, Zuversicht und Einsatzwille. In einem Jahr? Ich kann es nicht sagen, die Gegenwart ist derzeit zu intensiv und zu präsent. (Manuela Moser)