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Spektakulärer Fund im Küsnachter Tobel

Erstellt von Dani J. Schüz |
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Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Aprilscherz.

Alles deutet darauf hin, dass die heilige Wiborada – eine Nonne, die sich vor 800 Jahren einmauern liess, um so in spirituelle Askese zu gehen – eine Nachfolgerin in Küsnacht hatte. Der Fund von der Burg Wulp ist entschlüsselt.

Daniel J. Schüz

Hat sich vor 800 Jahren eine Nonne in einer Gruft unter der Wulp-Burg einmauern lassen, um als Inklusin – «fern der Welt, nah bei Gott» – den Rest ihres Lebens in vollkommener Isolation zu fristen? Vieles spricht dafür: Neueste Forschungsresultate widerlegen bislang kolportierte Gerüchte und nähren die Vermutung, dass die Burg Wulp vor nahezu tausend Jahren eine religiöse Kultstätte und ein Hort spiritueller Askese gewesen sein muss. «Damit», fasst Carola Jäggi vom Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich das Resultat ihrer Untersuchung zusammen, «wird im Küsnachter Tobel ein neues Kapitel in der Geschichte des Hochmittelalters und des Zürcher Klerus eröffnet».

Renovationen im letzten Herbst

Rückblende: Mitte Oktober 2020 auf dem Gelände der Wulp-Ruine über dem Küsnachter Tobel. Ein siebenköpfiges Zivilschutzdepartement hat den Auftrag gefasst, die ruinierten Mauern der Wulp-Ruine wieder herzustellen, ausgebrochene Steine zu ersetzen, den Unrat achtloser Besucher wegzuräumen. Es ist ein Knochenjob, buchstäblich – aber das wird erst nach der Mittagspause offenkundig. Die Männer haben ihren Tagessold zusammengelegt, um beim Metzger einen «Tomahawk» zu erstehen, eine kiloschwere Rindsrippe, die sie über dem Feuer gril­lieren.

Einer von ihnen – er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen – nimmt, als er sich zum Austreten zurückziehen will, einen Spaten und den abgenagten Knochen mit, um diesen sowie die eigene Hinterlassenschaft am Hang unter der Burg zu vergraben. Da stösst das Eisen auf Widerstand. Ein Stein?

Es ist ein Knochen, noch einer – einer, der den Mann erschaudern lässt: Ganz ­offensichtlich hat sein Spaten den aus­gebleichten Schädel eines Menschen getroffen. Unverzüglich erstattet der Zivilschutzsoldat Meldung bei den beiden Archäo­logen, die die Renovationsarbeiten überwachen. Diese sperren sofort den hinteren unteren Teil der Burg ab, erklären das Gebiet zur «archeological site» und fördern – neben einem bemerkenswert gut erhaltenen Backenzahn – bislang unbekannte Grundmauern zutage, die vermutlich verschüttet worden waren, als Rudolf von Habsburg 1268 die Wulp niederbrennen liess.

Erstaunt stellen die Archäologen fest, dass die freigelegten Mauern durchgängig waren. Die Gruft hatte keinen Eingang – eine Erkenntnis, die im Laufe der weiteren Untersuchung eine entscheidende Bedeutung bekommen sollte: Wer hier lebte, war nicht nur eingesperrt, sondern buchstäblich eingemauert.

Fund gelangt an die Universität

Es war offenkundig, dass dieser Fund für die zuständige Kantonsarchäologie eine Nummer zu gross ist: Carola Jäggi, die seit acht Jahren als Professorin am Kunsthis­torischen Institut der Universität Zürich den Lehrstuhl für Kunstgeschichte und Archäologie des Mittelalters innehat, übernahm die Untersuchungen der archäologischen Fundstücke sowie der architektonischen Besonderheiten des Gemäuers. Zuvor hatten der Schädel und der Zahn allerlei Gerüchte genährt: Unter der Wulp habe sich ein Kerker befunden, mutmassten Wissenschaftler, nachdem in Fachkreisen ruchbar geworden war, was die Ruinenrenovation im Oktober zufällig zutage gebracht hatte. Dort sei ein Übeltäter, womöglich ein Vasall des Rudolf von Habsburg, gefangen gehalten, wenn nicht gar gefoltert worden.

Nichts davon ist wahr: Zwar gehörten die Schädelkalotte und der Zahn tatsächlich zum selben Menschen, wie die Untersuchungen der Professorin ergaben. Dabei habe es sich aber offenkundig um eine weibliche Person gehandelt, «sie muss sehr fromm gewesen sein», erklärt Carola Jäggi im Rahmen eines Zoom-Gesprächs mit dem «Küsnachter», «möglicherweise war sie eine Begine oder eine Nonne». Bewegte und bewegende fromme Frauen hätten gerade im Raum Zürich eine lange Tradition, das beginnt bei Regelinda, einer Zeitgenossin von Wiborada, die als Äbtissin dem Zürcher Fraumünster-Kloster vorstand und sich später auf die Ufenau zurückgezogen hatte.

«Auch eine Insel kann Isolation bedeuten», sagt Carola Jäggi. «Und auch Wasser kann Mauer sein.» Die Tradition setzt sich fort bis zur Poetin Silja Walter, die sich bis zu ihrem Tod vor zehn Jahren in den Mauern des Klosters Fahr in Isolation begeben hatte, um ihre Kontemplation in Worte zu fassen.

Weibliche Spiritualität

Auf dem Gebiet der weiblichen Spiritualität ist Professorin Jäggi, die sich mit ihren Forschungen zur Geschichte der Frauenklöster einen Namen gemacht hat, eine anerkannte Autorität. Dem Geschlecht der Verstorbenen misst sie deshalb eine besondere Bedeutung zu; es sei zwar bei einem Beckenknochen besser nachweisbar, «aber die Schädelform legt in diesem Fall mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Frau nahe. Die Fundstücke können mithilfe der C14-Analyse etwa in die zweite Hälfte des zwölften Jahrhunderts datiert werden, sind also rund 850 Jahre alt, der Zustand des Schädelknochens spricht für ein Sterbealter von Mitte dreissig – was damals schon ziemlich betagt war.» Auch der gut konservierte Zahn habe einiges zu erzählen, «zum Beispiel, dass diese Frau gut ernährt gewesen sein muss und keinen Hunger litt.»

Diese Erkenntnis lässt den Schluss zu, dass die unbekannte Tote nicht einfach in ihren Mauern gefangen war, sondern sich – wie rund 150 Jahre zuvor die später heiliggesprochene Wiborada von St. Gallen – in der Askese von weltlichen Zwängen befreit hat. Eingeschränkt in der Bewegungsfreiheit hat sie dennoch den Kontakt zur Aussenwelt gepflegt, die Menschen in allen möglichen Lebenslagen beraten und sich mit Lebensmitteln versorgen lassen. Der Name Wiborada ist denn auch eine Ableitung des Begriffs Weiberrat.

Die St. Galler Theologin Ann-Katrin Gässlein kann das bestätigen: Vieles spreche dafür, sagt sie, dass die unbekannte Frau vom Küsnachter Tobel eine Nachfolgerin der heiligen Wiborada war, die die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens isoliert und dennoch in Verbindung mit den Menschen gelebt habe.

Ann-Katrin Gässlein, die sich in St. Gallen als Mitarbeiterin der städtischen katholischen Seelsorge in der Nachfolge der heiligen Wiborada sieht, beschäftigt sich schon lange intensiv mit dem Thema: Das Jahr 2021 hat sie mit Kolleginnen und Kollegen der reformierten Kirche zum Wiborada-Jahr ausgerufen. Dieses Team richtete – mit grossem Erfolg – einen Aufruf an Frauen und Männer, die bereit sind, sich für eine Woche in eine Inklusion zu begeben.

Der Küsnachter Knochenfund überrasche sie nicht, sagt Gässlein. Schliesslich sei es kein Geheimnis, dass Wiborada selbst auch Vorgängerinnen hatte und auch nach ihr zahlreiche Inklusinnen diese Extremform der Askese praktizierten. «Zwei andere Begebenheiten geben mir viel mehr zu denken: Ich frage mich, ob es sich um göttliche Fügung oder um einen seltsamen Zufall handelt, wenn im Herbst vor dem Wiborada-Jahr die sterblichen Überreste einer Frau gefunden werden und diese sich im Frühling danach als die wahrscheinlichen Gebeine der Wiborada von Küsnacht erweisen.» Das sei das eine, sagt sie.

Und das andere?

«Was hat es wohl zu bedeuten, dass der Rückzug in die Inklusion ausgerechnet jetzt, wo Quarantäne und Selbstisolation die Welt bewegen, wieder im Gespräch ist – und das wenige Tage bevor wir der Auferstehung des Christus gedenken, dessen lebloser Körper drei Tage in einer Gruft gelegen hatte?»