Er war Sanitätsleutnant im Jemen, Kommandant eines Zürcher Regimentes – und vor allem Arzt: 34 Jahre lang führte Dr. Hans-Ulrich Kull seine Praxis in Küsnacht. Jetzt sorgt er im Meilemer Impfzentrum für einen reibungslosen Ablauf.
Er steht neben dem Eingang – ein unauffälliger, älterer Herr in weissem Arztkittel. Aufmerksam beobachtet er das Geschehen im Zelt. Er strahlt gelassene Ruhe aus. Und viel Sicherheit.
Mit ausgesuchter Höflichkeit hat er die frisch geimpften Menschen in den Ruheraum geleitet, jetzt lässt er jeden einzelnen fünfzehn Minuten lang nicht mehr aus den Augen. Mit fachlicher Kompetenz ist er zur Stelle, wenn im Schockraum ein Notfall behandelt werden muss. Und mit freundlicher Geduld beantwortet er all die vielen Fragen.
Kann ich trotz der Impfung schwanger werden? – Ja. Der Wirkstoff hat keinen Einfluss auf die Fruchtbarkeit.
Ich habe schon eine Covid-19-Infektion durchgemacht. Brauche ich trotzdem eine Impfung? – Wahrscheinlich ja. Um das zu beurteilen, ist ein CRP-Test für den Nachweis von Antikörpern erforderlich.
Ich bin schwanger. Bringt der Impfstoff mein Baby in Gefahr? – Nein. Führende Gynäkologen sind sich einig, dass eine Impfung das ungeborene Leben nicht beeinträchtigt.
Ich bin nach der ersten Impfung kollabiert. Soll ich jetzt auf die zweite verzichten? – Nein. Aber sie muss unter besonderer Beobachtung erfolgen, damit wir einen allfälligen Blutdruckabfall vermeiden können.
Täglich 1000 Dosen
Dr. med. Hans-Ulrich Kull, 82, pensionierter Internist aus Küsnacht, ist einer von zehn Ärzten, die derzeit im Meilemer Impfzentrum dafür verantwortlich sind, dass möglichst viele Menschen möglichst rasch vor einer Infektion durch das Covid-19-Virus geschützt werden. «Bis anhin ist alles ohne grössere Komplikationen abgelaufen», zieht er nach gut zwei Monaten Bilanz. «Wir verimpfen täglich rund 1000 Dosen. Mittlerweile ist mehr als die Hälfte der Menschen in unserem Bezirk vor dem Virus geschützt, abgesehen von wenigen Zwischenfällen läuft der Betrieb reibungslos.»
Zwischenfälle?
Sie seien kaum der Rede wert, aber es komme immer wieder mal vor, dass jemand in den Schockraum gebracht werden müsse. Einmal, als das Computersystem kurzzeitig abgestürzt war, sei ein junger Mann durch seine lautstarke und ungeduldige Renitenz unangenehm aufgefallen. «Aber das sind Ausnahmen. Grundsätzlich bin ich hell begeistert von der professionellen Organisation und vom warmen, herzlichen Teamgeist, der hier herrscht. Wir sind alle – vom Polizisten bis zum Professor – per du; man
begegnet einander auf Augenhöhe.»
Keinen Moment hat Kull gezögert, als seine frühere Praxisassistentin ihm vor drei Monaten eröffnete, sie habe sich als Impfmitarbeiterin für das Zentrum in Meilen angemeldet. Ob er nicht auch Lust habe, fragte sie weiter, sich zu beteiligen. «Das war die Chance, mich nützlich zu machen», erinnert er sich. «Vor allem aber freute ich mich auf die Gelegenheit, wieder einmal mit meiner hochgeschätzten Mitarbeiterin zusammenzuarbeiten.» Und fügt bedauernd an: «Allerdings habe ich mich leider zu früh gefreut: Die Umstände wollten es, dass sie unterdessen ins Impfzentrum nach Oerlikon abgezogen wurde.»
Ungnädig war auch das europäische Schicksalsjahr 1939, als Hans-Ulrich in Küsnacht geboren wurde: Der Vater habe schon bald das Weite gesucht und sein Glück bei einer anderen Frau gefunden; die Mutter habe ihn und seine Schwester unter Umständen aufgezogen, die alles andere als rosig gewesen seien.
Feiner Sinn für Ironie
Das Schicksal hat gelegentlich auch einen feinen Sinn für Ironie: Es war der Paratyphus, eine gefährliche Infektionskrankheit, die Ende der 1950er-Jahre den Anfang einer medizinischen Laufbahn markierte. Und es ist die weitaus gefährlichere Covid-19-Pandemie, die 62 Jahre später die Karriere des pensionierten Arztes abschliesst. Damals wie heute spielt das Spital Männedorf eine zentrale Rolle: Das Krankenhaus am Zürichsee zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben und Wirken des Hans-Ulrich Kull.
«Der Vergleich hinkt», wendet er ein. «Mit zwanzig litt ich an einer bakteriellen Salmonellen-Infektion – und heute, sechzig Jahre später, geht es um eine virale Pandemie. Aber es stimmt schon: Als ich zum ersten Mal als junger Patient in Spital Männedorf lag, beobachtete ich die Arbeit der Ärzte sehr genau. Ich hatte in der Schule einen hervorragenden Lehrer, der mein Interesse für die Biologie geweckt hatte. Und ich erachtete es als gleichermassen spannend wie sinnvoll, Menschen zu helfen. So beschloss ich, ein Stipendium für das Medizinstudium zu beantragen. Später kehrte ich nach Männedorf zurück, zunächst als Assistenz-, später als Oberarzt. Und jetzt, wo ich als schichtführender Arzt im Impfzentrum eingesetzt werde, stehe ich erneut beim fürs Impfen im Bezirk Meilen verantwortliche Spital Männedorf unter Vertrag!»
Parallel zur beruflichen Laufbahn plante der junge Arzt seine militärische Karriere, die durchaus spektakulär begann: Nicht ohne Stolz und dennoch «in aller Bescheidenheit» schildert Kull, wie er 1961 der erste und wohl auch letzte Offiziersanwärter wurde, der seinen Leutnant im Ausland abverdiente, eingebunden in eine IKRK-Delegation im damals schon kriegsversehrten Jemen: «Ich nahm die einmalige Gelegenheit wahr, mich als junger Arzt auf der arabischen Halbinsel nützlich zu machen.» Als Regimentskommandant im Range eines Obersten hat er den Dienst in der Armee quittiert, seither legt er den Fokus vermehrt auf zivile Verpflichtungen: Kull präsidiert heute den Küsnachter Senioren-Verein, nahm einst Einsitz im Vorstand des Zürcher Rentner- und Seniorenverbands und engagierte sich nicht zuletzt auch als Mitglied der Freimaurer-Loge für eine bessere Gesellschaft – ein Thema allerdings, das er lieber diskret behandelt haben möchte: «Dazu nur so viel: Die Freimaurerei ist für mich eine wichtige Lebensschule geworden.»
Das Leben – und die Welt: Neben der Medizin, dem Militär und einem vielfältigen Vereinsleben hat sich Hans-Ulrich Kull immer wieder Zeit genommen, den Planeten zu erkunden. Insbesondere die Wüsten haben es ihm angetan – von Namibia bis in die Mongolei, von den patagonischen Einöden bis zu den arktischen Eisöden von Spitzbergen, wo «Eisbären als ungebetene Besucher das Camp» heimsuchten.
Gelegentlich begleitet ihn seine Cousine: Die Anglistin Ruth Frehner, die in Zürich die James-Joyce-Stiftung kuratiert und in Küsnacht die Kulturbar co-präsidiert, ist mittlerweile zu einer Partnerin geworden. Welche Ziele will einer, der auf ein so erfülltes Leben zurückblickt und von der Welt so viel schon gesehen hat, noch anvisieren? «Bulgarien», sagt Kull spontan. «Da wollte ich schon vor der Pandemie hin – und das möchte ich gerne so bald wie möglich nachholen.»
Und was bedrückt ihn rückblickend am meisten?
Hans-Ulrich Kull seufzt leise. Er erzählt von seiner Frau, die ihm vor zwölf Jahren nach einem Aortenriss aus heiterem Himmel genommen wurde. Von seinem Sohn, der sich für eine deutsche Hilfsorganisation in Georgien engagiert. Und von seiner Tochter, die ins Bernbiet gezogen ist und ihn vor fünf Jahren zum stolzen Grossvater einer Enkelin gemacht hat.
«Meine Familie», sagt Kull. «Heute weiss ich, dass ich mich noch mehr um sie hätte kümmern sollen.»