Fritz Zollinger hat viele Gesichter: Er ist studierter Kultur-Ingenieur und passionierter Apachen-Häuptling, Clown und Philosoph, Artist und Autor, Freigeist und Freimaurer. Vor allem aber ist er ein Menschenfreund.
Im Lichtkegel des Scheinwerfers tanzt ein Mädchen, dahinter hüpft eine drollige Hundemeute durch die Manege. Im Schatten des Tribünenrunds verfolgt ein kleiner Bub das ausgelassene Treiben. Fast sieben Jahrzehnte sind seither ins Land gezogen ...
Schon Mitte der 50er-Jahre gastierte der Nationalzirkus Knie in der Kleinbasler Rosentalanlage. Fritz mag, als er zum ersten Mal mit den Eltern einen Zirkus besuchen durfte, fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Sehr viel älter war auch das Mädchen nicht, das mit seinen Hunden das Publikum ergötzte. «In ihrem weissen Kleid wirkte sie wie eine Braut, bezaubernd, voller Anmut», erinnert Fritz sich an die kleine Artistin. «Und die tollpatschigen Hunde waren umwerfend komisch.»
Noch konnte der Bub nicht ahnen, wie nachhaltig jene Hundedressur sein Leben prägen sollte: «Das Mädchen hat eine Liebe entfacht», weiss er heute. Oder, wie es der deutsche Kultschriftsteller Karl May in blumiger Opulenz formulieren würde: «Seither glüht im Herzen des weissen Mannes die Liebe zu jener buntschillernden glamourösen Gegenwelt ...». Womit der Bogen von der zirzensischen zur cineastischen Welt gespannt wäre; denn kaum war Fritz des Lesens mächtig, tauchte er auch schon ein in die Magie der Buchstaben, liess sich vom Meistererzähler in die endlose Prärie des Wilden Westens entführen, in die Jagdgründe des Apachen-Häuptlings Winnetou und seines Blutsbruders Old Shatterhand. Mehr noch als Karl Maysliterarisches Werk hat Fritz Zollingerallerdings dessen filmische Umsetzung verinnerlicht. Er habe viele der siebzigBücher des Vielschreibers gelesen, sagt Zollinger, «und sämtliche Filme gesehen, alle siebzehn – mehrmals!».
Vom Bergsteiger im Winnetou-Look
«Im Berghof» heisst die kleine Seitenstrasse in einem ruhigen Villenquartier wenige hundert Meter unterhalb desSilbersees, in Itschnach als Schübelweiher bekannt. «Ich bin der Fritz!» Freundlich lächelnd steht er in der Haustür und begrüsst den Reporter mit dem Ausdruck mitfühlenden Bedauerns: «Und du willst mein ganzes Leben auf einer Zeitungsseite zusammenfassen? Darum beneide ich dich nicht!»
Womit wir auch schon bei der ersten Frage wären: Wie würde er diese 74 Jahre zusammenfassen? Oder einfach: Wer ist Fritz Zollinger? Diese zweite Frage beantwortet er wie aus der Silberbüchse geschossen: «Ich bin ein buddhistischer Indianer!» Mit der Antwort auf die erste Frage lässt er sich Zeit. Für einen, der weder seiner Fantasie noch dem Lauf seiner Gedanken Grenzen setzt, ist so eine Frage einigermassen herausfordernd. Denn hinter seinen ganz grossen Leidenschaften – dem Wilden Westen aus der Sicht von Karl May und dem Zirkus-Universum – verbirgt sich auch ein ernsthafter Wissenschaftler, Journalist und Autor, der mehrere Zeitschriften redigiert und insgesamt zehn Bücher verfasst hat – zu so unterschiedlichen Themen wie Wildschweine oder Jumbojets.
«Ich bin einer, der schon als Kind lernte, Widersprüchliches zu verbinden», sagt er endlich. «Unsere Eltern waren von Zürich nach Binningen gezogen; so sprach ich zu Hause Züridüütsch und in der Schule Baaseldytsch.» Im Laufe des Gesprächs wird sich erweisen, wie eng die Stationen im Leben des Fritz Zollinger mit Orten und Ländern verflochten sind.
Etwa mit einem Land wie Kroatien, dessen wildromantische Landschaften in den 60er-Jahren als Kulissen für die Karl-May-Filme dienten – und in dessen schroffen Karst-Gebirgen Fritz Zollinger alsTourist im Winnetou-Look zum Bergsteiger wurde. Oder mit Nepal, wo er alsEntwicklungshelfer im Sold der Vereinten Nationen die Erfahrung machte,dass «Glück und Lebensfreude nicht erkauft werden können». Die Orte heissen Basel, Küsnacht, Zürich, Otelfingen – und wiederum Küsnacht, wo sich der Kreis schliesst.
In Basel erklimmt sein Vater, der Chemiker Heini Zollinger, die Karriereleiter bei einem der lokalen Pharmariesen, während Mutter Heidi sich um den Haushalt kümmert – nicht nur zu Hause, auch in der Schule: Sie ist Haushaltslehrerin, was den ältesten ihrer drei Söhne offenkundig wenig beeinflusst hat. «Bis heute», bekennt Fritz freimütig, «nehme ich zum Leidwesen meiner Frau Barbara nur selten einen Kochlöffel und noch weniger den Staubsauger in die Hand.» Dafür zeigt der Musenkuss Wirkung, mit dem ihn ein Mädchen mit tanzenden Hunden unterm Knie-Chapiteau beglückt hat: Fritz übt sich in der Kunst des Jonglierens, er tanzt auf dem Seil, radelt auf dem Einrad und macht sich mit blonder Perücke und oranger Nase zum Clown. Mit den Brüdern setzt er in der Garage improvisierte Vorführungen in Szene und erklärt den entsetzten Eltern, er wolle Zirkusdirektor werden.
Das Beste an Basel, so erinnert er sich an jene Jahre, sei allerdings die Fasnacht gewesen. «Und das Beste an dieser Fasnacht sind die Schnitzelbänke. Sprachwitz und Ironie, kunstvoll gefertigte Larven und poetischen Laternen: Da kann Zürich mit dem immer gleichen Sechseläuten nicht mithalten.»
Aus Zürich erreicht der akademische Ruf den Vater: Heini Zollinger lässt sich als ordentlicher Professor an der ETH Zürich verpflichten – und die Devise «Wissenschaft statt Wirtschaft» nimmt auch Sohn Fritz in die Pflicht, der in Küsnacht die Primarschule, später in Zürich das Gymnasium besucht und schliesslich an der ETH, die sein Vater unterdessen als Rektor leitet, ein Studium absolviert, das kaum jemand kennt: «Kulturtechnik hat wenig mit dem zu tun, was allgemein als Kultur gilt: Es geht vielmehr um Melioration und Vermessungstechnik – und seit wenigen Jahren auch um andere kulturelle Errungenschaften, etwa die Kunst des Schminkens, astrologische Erkenntnisse oder den schriftlichen und mündlichen Gebrauch von Sprache.»
Er dissertiert über «Wildbachverbauungen und Geschiebeablagerungen», lässt sich vom Vater das Diplom signieren und absolviert zu dessen Erleichterung, aber mit wenig Begeisterung die Offiziersschule. Als er nach einer Begleiterin für den Offiziersball Ausschau hält, erinnert er sich an Barbara, seinen heimlichen Schwarm aus der Küsnachter Primarschule – «und heute sind wir seit einem halben Jahrhundert verheiratet!».
Zwischen Zirkus und Wildem Westen
Fast ebenso lange hat das Paar im 3000-Seelen-Dorf Otelfingen gelebt. Raumplanerische Gegebenheiten an der Westgrenze des Kantons haben den Chefbeamten – Zollinger leitete zehn Jahre lang das Meliorations- und Vermessungsamt – jahrzehntelang beschäftigt. Doch jetzt, wo er die akademischen und militärischen Erwartungen des Vaters erfüllt hat, erinnert er sich an sein altes Versprechen – und managt seinen eigenen Zirkus. Zunächst ist der Zirkus Zolli eine nahezu abendfüllende One-Man-Show, die mit dem Zeltarbeiter beginnt, der noch einmal die Seile festzurrt, bevor er sich in Tempo Teufel in den Zirkusdirektor verwandelt, der vollmundig das hochverehrte Publikum willkommen heisst und nach einem blitzartigen Kostümwechsel als Nummerngirl den Seiltänzer ankündigt, der sich seinerseits als rotnasiger Clown entpuppt und handkehrum als Jongleur im Indianer-Outfit vier Tomahawks durch die Luft wirbeln lässt.
Der stupende Auftritt des wieselflinken Verwandlungskünstlers könnte durchaus als symbolisch inszenierte Vorwegnahme einer kunterbunten Fritz-Zollinger-Biografie gedeutet werden. Vom Zirkus Zolli ist es dann nur noch ein kleiner logischer Schritt, der 1986 mit der Gründung des Jugendzirkus Otelli ein neues Kapitel in Zollingers Lebensbuch aufschlägt. «Ich wollte bewusst keine Zirkusschule lancieren, sondern den Zirkus als Lebensschule gestalten», erläutert er sein Konzept. «Die Kinder sollen wissen, dass alles möglich ist, wenn man nur wirklich daran glaubt – frei nach dem Motto: ‹Es gaht nöd: Das gits nöd!›» Das simple Erfolgsrezept hilft dem Zirkuspionier auch noch nach 38 Jahren über das Schicksal der Kinderlosigkeit hinweg, es hat ihm das Otelfinger Ehrenbürgerrecht und – darüber freut er sich besonders – einen prominenten Eintrag in der Online-Enzyklopädie Wikipedia eingetragen.
Vor drei Jahren ist Zollinger von Otelfingen nach Küsnacht zurückgekehrt, doch er lässt es sich nicht nehmen, mehrmals pro Woche ins Zürcher Unterland zu reisen, um mit der Otelfinger Jugend Otelli in Szene zu setzen: Kunst und Klamauk vom Feinsten – heiter und besinnlich, spielerisch und ernsthaft, grad so, wie es sich für den Clown gehört. Zunächst zögert er vor dem Umzug nach Küsnacht und schnödet über die Goldküsten-Bonzen, doch dann kommen mit dem Virus die Pandemie, der Lockdown, das Ende öffentlicher Veranstaltungen. Die verängstigten Menschen ziehen sich in ihre vier Wände zurück, an Zirkus ist gerade nicht zu denken. Da reaktiviert Zollinger seine alte Zirkus-Drehorgel und veranstaltet im Garten tägliche Corona-Orgelkonzerte. «Die Menschen kamen aus den Häusern, lauschten der Musik, lernten einander kennen. Ich machte die Erfahrung, dass in diesem Dorf wunderbare Menschen leben – und warf meine Vorurteile über Bord.»
Selten genug, dafür unvergesslich schön sind die glücklichen Momente, die Winnetou vor der Kulisse der Oberengadiner Bergwelt als Zirkusartisten auftreten lassen – untermalt vom bombastischen, klassisch intonierten Film-Soundtrack. So geschehen vor einem Monat, als die Camerata Pontresina ein Karl-May-Potpourri arrangierte, Fritz dazu weise Worte deklamierte und die Silberbüchse auf dem Kinn balancieren liess. «Für mich», erinnert er sich, «ist der Silsersee zum Silbersee geworden.»
Anders als die meisten Zirkusunternehmen startet der Monti nicht im frühen Frühling, sondern erst mitten im Hochsommer in die neue Saison. Am vergangenen Freitag, dem 4. August, fiel Fritz Zollingers 74. Geburtstag auf eine besondere Zirkuspremiere: Es war der Auftakt zur 38. Monti-Tournee in Wohlen – und das ausgerechnet 38 Jahre nach der Gründung des Jugendzirkus Otelli in Otelfingen.
Zufall? Fügung? «Keine Ahnung», sagt er. «Ich weiss nur, dass ich zum ersten Mal gleichzeitig Geburtstag und eine Zirkuspremiere feiern konnte, die mich mi tihrer Poesie, ihrer Anmut und ihrer tollpatschigen Komik so berührt hat, dass ich unwillkürlich an das Mädchen mit den Hunden denken musste – an mein erstes Zirkuserlebnis.»