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Ein Hightech-Blick aufs Mittelalter

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Im Sommer 2018 wurde bei Sanierungsarbeiten am Singsaal der Kantonsschule Küsnacht ein Friedhof mit 55 Skeletten aus dem Hochmittelalter gefunden. Was die Forscher rund um die Skelette herausgefunden haben, präsentierten sie jetzt der Öffentlichkeit.

«Vorsicht – dass er nicht kaputt geht!», schreckt die ältere Besucherin zurück und tastet mit ihrem Fuss vorsichtig über den Boden. Durch die moderne Hightechbrille, die ihr Tobias Frey vom Zürcher Amt für Städtebau sorgfältig angepasst hat, traf die Küsnachterin soeben einen anderen Küsnachter, der vor rund tausend Jahren gelebt hat: die Gebeine eines Menschen, der im Hochmittelalter, zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert in Küsnacht zu Hause war und hier beerdigt wurde. Der Friedhof befand sich damals an der Stelle, wo heute die Gymeler singen: unter dem Singsaal der Kantonsschule.

«Auf Du und Du» mit Urahnen

So wie der Besucherin mit ihrer Brille geht es an diesem Abend in ebendiesem Singsaal noch weiteren Mitgliedern des Küsnachter Vereins für Ortsgeschichte. Präsident Alfred Egli – als Historiker selbst ein begeisterter Spurensucher und aus Passion «auf Du und Du» mit den Urahnen aus dem Mittelalter – hatte zum Vortrag mit dem wissenschaftlichen Ausgrabungsteam geladen. Projektleiter Werner Wild, Anthropologin Sabrina Meyer und Grabungstechnikerin Angela Mastaglio stellten Grabungs- und Forschungsresultate vor. Über fünfzig Bewohner folgten ihren Ausführungen gespannt – zeitweise konnte man die berühmte Nadel zu Boden fallen hören und kam sich fast vor wie in einem mittelalterlichen Krimi.

Höhepunkt des Abends war dabei klar die Möglichkeit, mithilfe der 3-D-Projektion, die im modernen Städtebau eine grosse Rolle spielt und hier von Spezialist Tobias Frey «gemanagt» wurde, die Skelette «knochennah» kennen zu lernen. Zu verdanken ist dies der «Augmented Reality» genannten Technik: Durch eine Hightech-Brille blickt man auf das Modell – hier eben die Gebeine vom Küsnachter Gräberfeld – und sieht das Hologramm genau so, wie es jahrhundertelang im Erdreich unter der Kantonsschule lag.

Von den 55 Skeletten, die man in Küsnacht bergen konnte, wurden 38 genauer untersucht. Dabei handelt es sich um 18 Frauen, 13 Männer, 5 Jugendliche und 2 Individuen mit unbestimmtem Geschlecht. Was für Namen aus dem Hochmittelalter diese Menschen trugen, ob sie beispielsweise Clodhard und Fridebertis hiessen oder Liutgard, Melisande, Chunegundis, wissen wir nicht – ohnehin wissen wir noch längst nicht alles und es bleiben viele Fragen offen, wie Anthropologin Sabrina Meyer ihren Vortrag beendete – aus dem nicht nur wissenschaftliche Kompetenz, sondern auch viel «Herzblut» herauszuhören war.

Bestandesaufnahme der Knochen

Einige der Fragen immerhin konnten die Wissenschaftler klären, so etwa das Geschlecht, die Grösse oder (mit der Radiokarbonmethode) das Alter der Toten. Ausserdem zeigten sich bei einigen Skeletten bestimmte Krankheitsbilder: So litt wohl, wie die poröse Knochenbeschaffenheit verrät, «Individuum Nr. 23» an einem Prostatakrebs und dass der Tote deutlich abseits aller anderen bestattet wurde, lässt eventuell auf Metastasen im Hirn und damit einhergehende Persönlichkeitsveränderungen schliessen. «Individuum Nr. 97», ebenfalls ein Mann, litt – wie die Spezialisten aufgrund eines verkrümmten Oberschenkels annehmen – an einem Vitamin-D-Mangel und starb wohl an Knochentuberkulose. Wie schmerzhaft muss das Leben dieser Altvorderen manchmal gewesen sein, da dürfen wir Heutigen froh sein über die moderne Gesundheitsversorgung.

Gleich zwei Maturandinnen der Kanti Küsnacht nutzten die Gelegenheit für ihre Abschlussarbeiten: Der Film von Natalie Wüst über die Grabungsarbeiten wurde an diesem Abend ebenfalls gezeigt und Alicia Hollarek war nicht nur anwesend, sondern in ihrer Maturarbeit «Die Toten unter der Schule» durfte auch geblättert werden. So war – dank «Augmented Reality», welche die Hologramme in 3-D-Technik fast realiter erlebbar machte – die Illusion perfekt: Die Gebeine der mittelalterlichen Küsnachter waren dorthin zurückgekehrt, wo sie während Jahrhunderten gelegen hatten, nämlich in den Singsaal, der einst Friedhof war. Und die Küsnachter von heute konnten ihre Urahnen im direkten Nebeneinander von Historie und Hightech authentisch erleben.

Ganz nebenbei zeigte der Abend auch, wie ein Ortsverein wirken kann: nämlich die Dorfbewohner zusammenzubringen – sogar jene aus Gegenwart und ferner Vergangenheit. (Annemarie Schmidt-Pfister)