Alfred Egli (88) kennt jeden Stein in Küsnacht – und man darf wohl sagen: Jeder Stein kennt Alfred Egli. Seit 20 Jahren präsidiert der pensionierte Lehrer den Verein für Ortsgeschichte und leitet die Herausgabe der Küsnachter Jahrhefte, heuer zum 30. Mal.
Alfred Egli, Ortsgeschichte klingt betulich, nostalgisch und altmodisch. Wie können wir die Leser des «Küsnachters» animieren, ein Interview zu diesem Thema bis zum Schluss zu lesen?
Ortsgeschichte ist hochaktuell, sie widerspiegelt das grosse Zeitgeschehen im Kleinen, und sie findet vor unserer Haustüre statt. Sie brauchen nur auf die Strasse zu treten, und schon sehen Sie Gebäude, Plätze und Ecken, die mit einer spannenden Geschichte und vielen menschlichen Schicksalen verbunden sind. Es interessiert doch, gopfridstutz, jeden, wer einst hinter diesem Gemäuer lebte, was seine Nöte waren, was alles da geschehen ist und wie es sich heute präsentiert. Ortsgeschichte verschafft persönliche Identifikation bezüglich der Herkunft und Vergangenheit in allen ihren Facetten. Die Geschichte des Wohnorts ist auch Teil unserer Identität.
In Zeiten gesellschaftlicher Megatrends wie «Globalisierung» oder «Mobilisierung » sind die in Küsnacht wohnhaften Personen denn überhaupt noch mit dem Ort verbunden?
Der Zuspruch an unseren Dorfführungen ist gross, ab und zu sogar überwältigend. Manche Neuzuzüger möchten gern mehr erfahren über den Ort, an dem sie nun wohnen, und nicht bloss an Fassaden glotzen, ohne zu wissen, was dahintersteckt. «Grabe, wo du stehst», dieses Motto der schwedischen Geschichtsbewegung machen sich nicht wenige Leute zu eigen. Durch eine spannende Vermittlung der Ortsgeschichte entwickelt sich schliesslich auch eine Verbundenheit mit dem Ort.
Was ist Ihr Antrieb, das vergangene Küsnacht zu erforschen?
Als Teilchen der Küsnachter Geschichte kann ich gar nicht anders. Ich bin in diesem Anfang des 16. Jahrhunderts im Dorfzentrum Küsnachts erbauten Haus meines Grossvaters geboren und aufgewachsen und lebe immer noch hier. Ich habe eine ungemein intensive Beziehung zu diesem historischen Geflecht. Ausserdem habe ich einen unauslöschlichen Lehrtrieb. Ich muss all mein Wissen weitergeben an die armen «Chäibe», die es noch nicht haben. Das ist meine Leidenschaft!
Was ist besonders erinnerungswürdig an der Geschichte Küsnachts?
Wir haben eine geheimnisumwitterte Burgruine, die Burg Wulp aus dem 11. Jahrhundert, die über dem Küsnachter Tobel thront. Im Gebiet der heutigen Allmend befand sich vom 1. bis zum 4. Jahrhundert nach Christus ein römischer Gutshof. Letztes Jahr kamen bei einer Grabung unter dem Singsaal der Kantonsschule Dutzende nahezu vollständige Skelette zum Vorschein. Die lagen da seit tausend Jahren. Faszinierend! Und ein Thema, das die Leute heute noch beeindruckt, sind die zwei verheerenden Überschwemmungen des Dorfbachs, 1778 und 1878, die Dutzende Menschenleben kosteten. Es ist ein riesiges Privileg Küsnachts, dass wir zahllose historische Orte besitzen, die Erkenntnisse über die Vergangenheit ermöglichen.
Wie gehen Sie bei den Recherchen zu einem Thema für die Jahrhefte vor?
Bei der Themenwahl lasse ich mich von meinen Interessen und meiner Neugier treiben, von Thomas Manns Küsnachter Jahren über die Mühlen am Dorfbach bis zur Bourbaki-Zeit. Da gibt es keine Systematik. Bei den Recherchen bin ich jedoch äusserst pedantisch und gehe mit höchster Präzision vor. Dafür suche ich nach Quellen im Staatsarchiv, im Gemeindearchiv, im Landesmuseum, in der Zentralbibliothek und in der dortigen grafischen Sammlung. Oft beschäftige ich mich monatelang mit einem Thema, das aber auch wieder zu einem weiteren Sujet führt.
Welches sind die grössten lokalgeschichtlichen Lücken?
Die Sozialgeschichte Küsnachts. Beispielsweise rund um den Ersten Weltkrieg und wie sich dieser auf sämtliche Lebensbereiche der Bewohner auswirkte.
Küsnacht ist seit Ihrer Geburt Ihre Heimat. Welche Entwicklung sehen Sie mit Bedauern?
Die politischen Behörden, die Schule und die Kirche zerstören seit Jahrzehnten die historische Substanz und das Landschaftsbild Küsnachts. Durch Einzonungen, durch Überbauungen, aus Steuergründen oder einfach aus schierer Ignoranz. Küsnacht verstädtert von Jahr zu Jahr. Aus Erfahrung stelle ich nüchtern fest: «Da oben» fehlen Respekt und Ehrfurcht vor Natur, Geschichte und allem Gewordenen.
Welche mit Freude?
Ich freue mich in erster Linie darüber, dass unsere Vorfahren kluge Entscheidungen für das Gemeinwohl und zum Schutz der Landschaft und der Natur getroffen haben. Dank Landkäufen durch die Gemeinde ist die grüne Lunge oberhalb Küsnachts mit dem romantischen Tobel weitgehend erhalten geblieben. Und was mal eine Schutthalde am See war, ist heute das prächtig gestaltete Küsnachter Horn. Selbst die heutigen Politiker und Behörden können diese traditionellen Werte nicht mehr zerstören.
Sie haben im aktuellen Jahrheft angekündigt, dass es nach 30 Jahren Ihr letztes ist. Gibt es einen Nachfolger?
Die heisse Phase der Nachfolgersuche steht unmittelbar bevor. Ich hoffe, dieser letzte Coup wird mir glücken. Ich tauche aber nicht einfach Knall auf Fall ab, das wäre verantwortungslos und allenfalls verheerend. Das Präsidium des Vereins für Ortsgeschichte werde ich noch eine Zeit lang weiterführen.