Vor allem kümmert sich die Wissenschafterin Rahel Fierz um ihre Familie. Aber sie setzt sich auch für die Natur ein. In Küsnachter Weihern bewahrt sie Tausende von Amphibien vor dem Tod.
Der Garten hinter dem Haus wirkt gepflegt verwildert, und ziemlich wild ist auch das Treiben der Kinder: Kopfüber hängt der Älteste in der Schaukel, seine Schwester macht dem kreischenden Bruder den Ball streitig. Der Vater hat sich oben im Büro hinter seinem Laptop verschanzt, unten in der Stube sortiert die Mutter die Ferienwäsche. Bis vorgestern haben sie die ersten Wochen des Urlaubs, wie schon seit Jahren, in Silbertal verbracht, einem kleinen Dorf im vorarlbergischen Montafon; übermorgen geht’s für die letzten Tage ins Oberengadin.
Dazwischen nimmt sich die Mutter Zeit für den Besuch des Reporters vom «Küsnachter»; sie freut sich, dass sie von Enzo Botta, der vor einer Woche für die Sommer-Stafette vorgestellt wurde, als Nachfolgerin empfohlen worden ist. «Ich bin, wie mein Mann gerne sagt, die ‹Aussenministerin› in unserer Familie», schmunzelt sie. «Ich bin kontaktfreudig und rede gern mit allen Leuten, während Martin lieber unsichtbar bleibt und die Kinder ihre Namen auf gar keinen Fall in der Zeitung lesen wollen!»
So pflegt jeder seine Vorlieben und Eigenheiten, aber wenn’s um den Schutz der Umwelt geht, dann halten sie zusammen wie Pech und Schwefel: Familie Fierz, wie sie leibt und lebt.
Es seien nicht immer nur entspannte Urlaubstage gewesen, fährt die Mutter fort und erlaubt sich einen leichten Seufzer. «In dem Alter suchen die Kinder ihre Grenzen.» Die promovierte Umweltwissenschafterin schenkt Wasser ein. «Sie wollen halt ihren eigenen Kopf durchsetzen.»
Locker unter einer Stunde
Frühmorgens, bevor die grosse Hitze kommt, kann man ihr im Tobel begegnen. Die sieben Kilometer zur Tobelmüli rauf und wieder runter schafft sie locker in weniger als einer Stunde. Oder man findet sie auf dem Dorfplatz, wo sie sich gern auf einen Schwatz einlässt. «Das mag ich an Küsnacht», sagt Rahel Fierz. «Wenn ich hier unterwegs bin, treffe ich immer jemanden, den ich kenne. Daran merkt man, dass die Gemeinde ein Dorf geblieben ist.»
An das Dorf am anderen Ufer des Sees hat sie keine Erinnerung: Rahel war noch ein Baby, als ihre Eltern von Kilchberg ins Berner Oberland zogen. Einigen, ein Ortsteil von Spiez, idyllisch eingebettet zwischen dem lieblichen Ufer des Thunersees und der mächtigen Kulisse der Hochalpen, hat sich seinen ländlichen Charakter bewahrt. Das Dorf und mit ihm auch die Welt der Berge ist für Rahel der Inbegriff von Heimat geworden. Man kann es Sehnsucht nennen. Oder Heimweh. «Wie auch immer», sagt Fierz, «uns» – und damit meint sie sich und Martin, ihren Mann – «zieht es bei jeder Gelegenheit hinauf in die Berge.»
Dabei geht es ihr um mehr als Heimatliebe – um viel mehr, und das hat sich schon früh abgezeichnet: Rahel war noch ein Kind, zehn Jahre vielleicht, als sie als aktives Mitglied dem WWF beitrat. «Es war ein erster Schritt», erinnert sie sich. «Denn der Zustand des leidenden Planeten war offenkundig, der Natur- und Umweltschutz das Gebot der Stunde – damals schon und heute mehr denn je.»
Weitere wegweisende Schritte folgten einander in runden Zehn-Jahres-Etappen: Der zweite Schritt führte weg vom Land in die grosse Stadt: Zur Jahrtausendwende – Rahel war 20 Jahre jung – nahm sie an der ETH Zürich das Studium der Umweltwissenschaften auf. Mit 30 kam ihr erster Sohn zur Welt – und mit ihm die Einsicht, «dass Wissenschaft und Mutterschaft nicht miteinander vereinbar sind.»
Man kann es auch als Transformation der Priorität sehen: Mit ihrem Entscheid, sich den Kinderwunsch zu erfüllen, blieb Rahel, die «schon immer hatte Mami werden wollen», sich selbst treu; als Wissenschafterin hatte sie stets der Feldforschung den Vorzug gegeben, als werdende Mutter das Leben in den Vordergrund gerückt. «Auf jeden Fall», lacht sie, «geht es letztlich immer um die Natur!»
Aber auch um den Feinstaub, jenes Phänomen, das für Rahel und Martin so etwas wie ein romantischer Brandbeschleuniger werden sollte. Ohne den Feinstaub, diesen gemeinsamen Nenner zwischen Physik und Umweltproblematik, wäre die Geschichte der Familie Fierz nie geschrieben worden. Im dritten Jahr ihres Studiums absolvierte die Studentin Rahel ein Praktikum am Paul-Scherrer-Institut im aargauischen Würenlingen. Dabei machte sie «Die optischen Eigenschaften des feuchten Feinstaubs» zum Thema ihrer Dissertation und lernte bald schon einen Kollegen ihres Vorgesetzten kennen. Der Physiker Martin Fierz galt als Experte in Sachen Feinstaub. Und er besass ein Haus in Küsnacht.
Emotionales Wechselbad
Es war die Zeit, in der Rahel in ein emotionales Wechselbad eintauchte: Im Jahr 2005 – sie war 25 Jahre jung – erreichten sie kurz nacheinander zwei Hiobsbotschaften aus dem Berner Oberland. Nach dem Tod ihres betagten Vaters war auch die Mutter schwer erkrankt und ihrem Mann ins Grab gefolgt. «Ich hatte alles verloren, was mir wichtig war», erinnert sie sich an jene dunkle Zeit, «und stand plötzlich ohne Familie da – und ich hatte nur noch diesen einen Gedanken: Da muss ich jetzt durch. Und wenn ich das aushalte, dann kann mir nichts mehr etwas anhaben.» Es sei gut möglich, mutmasst sie, dass in jener Situation ihre innere Bereitschaft gereift sei, eine eigene Familie zu gründen.
Es war, als hätte ein tröstendes Schicksal die Regie übernommen: Die Trauer um den Verlust der Eltern vermischt sich mit der erblühenden Liebe zu dem Physiker und der Freude über den bevorstehenden Abschluss ihrer Doktorarbeit.
Bald schon zieht Rahel bei Martin in Küsnacht ein, im Jahr darauf feiert das Paar Hochzeit, und es vergeht ein weiteres Jahr, bis mit dem ersten Kind das Glück im Haus am Ausgang des Küsnachter Tobels einkehrt.
Heute doziert Martin Fierz als Physik-Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Windisch, daneben leitet er Naneos, eine Firma, die er für die Produktion hochspezialisierter Geräte zur Feinstaubmessung gegründet hat. Gleichzeitig setzt Rahel Fierz sich auf verschiedensten Ebenen für den Umweltschutz in der Gemeinde ein – aufklärend, politisierend, helfend.
Auf der Plattform Praktischer Umweltschutz – kurz: pusch.ch – hält sie an Schulen Vorträge, um jungen Menschen deutlich zu machen, was getan werden muss, um künftigen Generationen eine gesunde Natur und eine intakte Umwelt zu hinterlassen. Sie sitzt als Beraterin in der Küsnachter Energie- und Naturschutz-Kommission ein. Und seit kurzem hat sie vom Ehepaar Marianne und Benno Lüthi auf der Forch die Verantwortung für das Überleben der Amphibien zwischen Rumensee und Schübelweiher übernommen: Jedes Jahr im Vorfrühling, wenn die Frösche und Lurche sich zu Tausenden zum Paaren und Laichen auf den Weg machen, sorgen Rahel und ihre zwanzig Helfer dafür, dass es auf der Strasse zu keinem Massaker kommt: Sie sperren mit sechs Barrieren die Strassen zwischen den beiden Gewässern. Versteht sich von selbst, dass alle in der Familie vorleben, was sie predigen: «Wir haben eine Wärmepumpe im Haus installiert, wir besitzen kein Auto und reisen konsequent mit dem Zug», sagt Rahel Fierz. «Ein Flugzeug haben Martin und ich vor zwölf Jahren zum letzten Mal von innen gesehen, als wir an einer wissenschaftlichen Tagung in Thessaloniki teilnahmen.»
Unterdessen sind derlei Reisen durch Video-Konferenzen ersetzt worden. Corona sei Dank ...