Die Reformierte Kirche Erlenbach macht sich auch für ukrainische Geflüchtete stark – und stellt unter anderem Wohnraum zur Verfügung. Jüngst wurde etwa das Pfarrbüro für zwei Geflüchtete geräumt. Der «Küsnachter» durfte das umfunktionierte Studio näher in Augenschein nehmen.
Die Einrichtung des Studios ist minimalistisch, doch behaglich – das an die Wand gerückte beige Sofa lädt zum Verweilen ein, eine Orchidee verleiht dem Zimmer Lebendigkeit. Mehr gibt es aber nicht, an den weissen Wänden hängen noch keine Bilder. Es lässt sich erahnen, dass die Wohnung erst kürzlich bezogen worden ist. Vom Balkon aus reicht der Blick von den Hausdächern Erlenbachs über den See bis auf das andere Seeufer, im Vordergrund ragt der Turm der reformierten Kirche in den wolkenverhangenen Himmel. «Als wir eingezogen sind, haben mich die Kirchenglocken jeden Morgen geweckt», erinnert sich Olena Sliusareva, die im März ins ehemalige Pfarrbüro eingezogen ist. «Unterdessen habe ich mich daran gewöhnt», fährt sie fort. Die 54-Jährige lacht, als sie den leicht zerknirschten Ausdruck auf dem Gesicht ihres 21-jährigen Sohnes George kommentiert: «Keine Sorge, das ist nur seine Morgenmiene.» Mutter und Sohn posieren für ein Foto.
Pfarrbüro für Geflüchtete geräumt
Olena Sliusareva lebte mit ihrer Familie in Odessa – doch dann kam der Krieg und veränderte alles. Viel zu gefährlich wäre es gewesen, in Odessa zu bleiben, zu akut war die Lebensgefahr. So begab sich Sliusareva mit ihren beiden Kindern auf die Flucht, ihr Mann und ihre Eltern mussten zurückbleiben. George, der letztes Jahr sein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hatte, traf vor seiner Mutter in der Schweiz ein, seine Schwester zog weiter nach Spanien. Dort engagiert sie sich nun in einer Flüchtlingsorganisation.
Nach ihrer Ankunft fanden Olena Sliusareva und George bei der Erlenbacherin Anastasiya Walti Unterschlupf. «Ich bin selbst Russin und bin im Alter von zehn Jahren in die Schweiz gezogen. Noch nie zuvor habe ich mich dermassen für mein Mutter- beziehungsweise Vaterland schämen müssen», äussert sich Walti, die auch wertvolle Übersetzungsarbeit leistet. Nach einer Weile wurde Walti von der reformierten Kirchengemeinde darauf aufmerksam gemacht, dass das Pfarrbüro im Kirchgemeindehaus Geflüchteten als Wohnraum freigestellt werde – so bezogen Olena und George das Studio, welches vor der Inbetriebnahme als Pfarrbüro von der Gemeindeschwester bewohnt wurde. Durch wenig Aufwand konnte das Büro wieder in eine Wohnfläche umgewandelt werden – auf dieser durften sich Olena Sliusareva und ihr Sohn niederlassen und nach langer Zeit wieder Privatsphäre geniessen.
Schrecklicher Bombenalarm
Olena Sliusareva und Georges Erfahrungen sind kein Einzelschicksal – in Erlenbach sind rund 50 ukrainische Geflüchtete angekommen. Gut die Hälfte von ihnen wohnen im «Haus am Heslibach», dem ehemalige Pflegeheim am See in Küsnacht. Dieses birgt viel Wohnfläche, welche Geflüchteten zur Verfügung gestellt wurde. Viele Menschen werden auch privat von Gastfamilien beherbergt – wie etwa von der Familie Walti. Die fünfköpfige Familie bewohnt das Pfarrhaus am See und beherbergte gleichzeitig bis zu sechs Geflüchtete. Aus den Erzählungen der Erlenbacherin geht hervor: Tragik scheint der Regelfall zu sein. «Es ist einstimmig – alle Geflüchteten wollen sobald wie möglich nach Hause.» Ein Drittel aller Geflüchteten hätten aber gar kein zu Hause mehr, da dieses durch die Bombenangriffe der russischen Armee in Schutt und Asche gelegt worden ist.
«Eine Frau hat über Youtube mitverfolgt, wie ihr Zuhause zerbombt wurde», erzählt Walti. Auch hätten alle Geflüchteten Verwandte und Freunde, die nach wie vor in der Ukraine sind. «Alle Ukrainerinnen und Ukrainer haben den Bombenalarm ihrer Heimatstadt installiert, zum Teil geht dieser fünf bis sechs Mal pro Nacht los. Dann versuchen alle, Kontakt mit ihren Verwandten aufzunehmen», erzählt Anastasiya Walti.
«Wir sind extrem privilegiert»
Das Schicksal der Geflüchteten hat die Reformierte Kirche in Erlenbach zu einer grossen Solidarität bewegt. Vor Ort betont Pfarrerin Stina Schwarzenbach, dass die Kirche ein ganz besonderes Hilfspotenzial habe: «Die politische Gemeinde ist rechtlich sehr eingeschränkt – die Kirche hat da mehr Freiheiten und Möglichkeiten zu helfen.» Auf die Frage, ob es eine moralische Pflicht zu helfen gebe, erwidert die Pfarrerin: «Das ergibt sich aus dem christlichen Gebot der Nächstenliebe. Zudem sind wir extrem privilegiert – auch davon leitet sich eine Hilfspflicht ab.» Beim Besuch des Kirchgemeindehauses wird klar: Es wird geholfen, wo man kann. Im Fall der Reformierten Kirche in Erlenbach heisst das ganz konkret: «Was wir haben, ist Platz: Den wollen wir nutzen und als Hilfe anbieten», so Schwarzenbach.