Nach 30 Jahren tritt Pfarrer Andreas Cabalzar von seinem Pfarramt in Erlenbach zurück. Zum Abschied ein Gespräch über den Glauben in einer zerrissenen Welt, die Freiheit zur Selbstverantwortung und die Poesie des Lebens. Morgen Sonntag, 26. Juni, ist sein Abschiedsgottesdienst.
Herr Cabalzar, welche Erkenntnis haben Sie in den drei Jahrzehnten als Pfarrer für Ihr eigenes Leben gewonnen?
Andreas Cabalzar: Ich habe viel gelernt über die Verletzlichkeit des Lebens und über den Umgang mit verletztem Leben. Mir war durch meinen Beruf die Endlichkeit stets bewusst. Das führte dazu, dass ich alles mit einer hohen Intensität anging und mein Leben so kräftig, so farbig und so gut wie nur möglich lebe und es auch intellektuell tief durchdringen möchte. Ich habe erkannt, wie wertvoll Poesie ist, damit meine ich nicht nur Gedichte, sondern die Poesie des Lebens. Poesie ist der Raum hinter den Dingen, das, was über das hinausgeht, was ich vor Augen habe.
Was hat Sie bewogen, das Pfarramt vor Ihrer Pensionierung abzugeben?
Abschied und Neuanfang sind Teil der grundlegenden Wandlung, die durch meinen schweren Unfall und die Lähmung in Gang gesetzt wurden. Nach der Wiederaufnahme meiner Arbeit erkannte ich mit der Zeit, dass ich das Pfarramt nicht mehr auf jene Weise ausüben kann, wie es meinem Selbstverständnis als Pfarrer entspricht. Es war mir stets ein grosses Anliegen, aus den Themen heraus, die bei der Seelsorge aufkommen und die oft auch schon früh gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen, Projekte auszuarbeiten. Die Intensität, mit der ich viele verwirklichte, wie zum Beispiel das betreute Wohnen für Jugendliche in Erlenbach oder das Haus für Männer in Trennung, kann ich nicht mehr in dem Masse aufbringen. Nun verlangt mein Körper Aufmerksamkeit. Ich will mir deshalb Freiräume schaffen, in denen Neues wachsen kann.
Verraten Sie uns Ihre Zukunftspläne?
Ich werde mich weiterhin den Themen Theologie, Kunst und Soziales, die für mich miteinander verbunden sind und denen ich auch in der Kulturkirche Erlenbach einen Raum gab, widmen. Meine Partnerin und ich planen in Gockhausen, wo wir ein Haus in der Künstlerkolonie erwarben, Kulturprojekte im KaM, im Kulturhaus am Meisenrain, zu verwirklichen, mit Ausstellungen, Konzerten, Literaturveranstaltungen und Gesprächen. Daneben werde ich auch weiterhin selber künstlerisch tätig sein und schreiben und malen.
Vor rund 35 Jahren haben Sie sich nach einer kaufmännischen Ausbildung entschieden, in die Fusstapfen Ihres Vaters zu treten und Theologie zu studieren. War das eine kluge Entscheidung im Rückblick?
Ja, eine sehr gute Entscheidung. Die Kirche war schon damals in der Krise und Organisationen, die in einem starken Wandel sind, bieten immer viele Gestaltungsmöglichkeiten. Das war genau das, was ich suchte, ein Arbeitsfeld, in dem ich mich entwickeln und entfalten kann und wo ich es mit Menschen zu tun habe.
Welche Rolle spielte dabei der Glaube?
Während des Studiums hatte ich einen intellektuellen Zugang zu Gott. Dann hatte ich so einen Verdacht, dass Gott existieren könnte. Dieser Verdacht ist geblieben. Ich habe keinen Beweis für Gottes Existenz. Das wäre auch schrecklich, denn wenn ich einen hätte, wäre es Gewissheit und nicht Glaube und ich verlöre die Freiheit, von mir aus eine Beziehung zu Gott zu haben. Die Tiefendimension des Glaubens gibt meiner Existenz eine enorme Farbigkeit, die ich nicht mehr missen möchte. Mein Leben ist intensiver, wenn ich mit dieser göttlichen Dimension rechne, das Farbenspektrum und die Deutungsmöglichkeiten erweitern sich. Und die biblischen Geschichten sind so gut. Sie geben einen Deutungsrahmen und Inspirationen fürs Leben.
Gibt es eine biblische Geschichte, die derzeit für Sie von besonderer Bedeutung ist?
Als ich nach dem Unfall auf der Intensivstation lag, kam mir die Geschichte von Lot in den Sinn. Die Engel, die zu Lot gekommen waren, ihn zu warnen, sagten zu ihm: «Rette dich! Es gilt dein Leben! Sieh nicht hinter dich und bleibe nirgends stehen im ganzen Umkreis! Ins Gebirge rette dich!» Da erkannte ich: Kein Blick zurück, nicht was verloren ist in den Blick nehmen, sondern das, was vor mir liegt, die Gegenwart und Zukunft in den Blick nehmen. Bis heute gibt mir diese biblische Geschichte eine Perspektive, mit meiner Situation umzugehen und stets aufzubrechen. Das Kulturhaus in Gockhausen, wo ich mich verwirklichen und weiterentwickeln kann, ist mein nächstes Ziel.
Wie hat Ihre existenzielle Erfahrung, die Sie mit Ihrem Unfall hatten, geprägt?
Vor dem Unfall hatte ich ein sehr intensives Leben geführt und war stark nach aussen orientiert. Nun zwingt mich mein Körper, meinen Blick nach innen zu richten. Der Unfall hat mich zentriert, ich ruhe nun klarer in mir. Es klingt paradox, aber es geht mir heute besser als vor dem Unfall. Ich habe durch diese grosse Transformation, so nenne ich die Folge des Unfalls, eine neue spirituelle Aufgabe erhalten. Ich betrachte sie als meine Chance, die bessere Version meiner selbst zu werden.
Wie leben Sie als Privatmensch Ihren Glauben? Beten Sie?
Das Gebet gehört zu meinem Alltag. Beten bedeutet Gott ansprechen, wir sind auf Du und Du miteinander. Allein die Möglichkeit, dass ich mich an ein Du wenden kann, hilft mir. Zudem fühle ich mich von tiefer Liebe umgeben, aufgehoben, geschützt, inspiriert und gestärkt zur Bewegung, im Innern wie Äussern.
Derweil nehmen die Kirchenaustritte ohne Unterlass zu. Wie würden Sie in wenigen Sätzen für den christlichen Glauben werben?
Nach reformiertem Verständnis ist Autonomie extrem wichtig, Glaube beruft zur Freiheit. Die Freiheit, selber denken zu können und damit Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen. In Zeiten von neuen Totalitarismen und Fundamentalismen, wie wir sie heute erleben, ist so verstandene Freiheit wichtiger denn je.
Angesichts der Zustände der Welt erscheint die Goldküste wie ein Paradies. Wie war das für Sie als Pfarrer, ist Erlenbach eine Gemeinde wie jede andere?
Erlenbach ist ein Dorf, in dem man sich noch begegnet. Ich hatte sehr viele Begegnungen mit Menschen, insbesondere in existenziellen Situationen, die ich begleiten durfte, die mir ihr Vertrauen geschenkt haben und denen ich vielleicht auch eine Stütze sein konnte. Diese Begegnungen haben mich bereichert. Die Erlenbacher waren oft eine Herausforderung, ich vielleicht auch für sie. Aber sie haben mir ungemein viel ermöglicht und auch Experimente zugelassen. Erst durch ihr Unterstützung konnte ich viele meiner Ideen umsetzen. Und schliesslich fühlte ich mich nach dem Unfall von der Gemeinde und insbesondere von der Kirchenpflege sehr getragen. Dafür bin ich äusserst dankbar.
Pfarrer Andreas Cabalzar lädt zu seinem Abschiedsgottesdienst ein am Sonntag, 26. Juni, 10 Uhr in der reformierten Kirche Erlenbach, mit weiteren Mitwirkenden und Musik. Anschliessend: Apéro.