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Flüchtlingsheim in Küsnacht: «Wir mussten innert Minuten entscheiden»

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Seit drei Monaten leben 120 ukrainische Flüchtlinge – krebskranke Kinder und mehrfach behinderte Erwachsene – im ehemaligen Seniorenheim Sonnenhof. Küsnachts Gemeindepräsident Markus Ernst und Flüchtlingshelfer Alexander Lüchinger ziehen eine erste Bilanz.

Mehr als 50 000 Menschen aus der Ukraine, vor allem Frauen und Kinder, haben mittlerweile Zuflucht in der Schweiz gefunden. Wie viele leben in Küsnacht?

Markus Ernst: Derzeit zählen wir in unserer Gemeinde 225 Flüchtlinge, davon sind 170 aus der Ukraine gekommen – und von diesen sind gut zwei Drittel, nämlich 120, im ehemaligen Seniorenheim Sonnenhof untergebracht. Die geflüchteten Menschen, die wir beherbergen, machen knapp 1,5 Prozent der Bevölkerung aus; das sind deutlich mehr als die 0,9 Prozent, die jede Gemeinde gemäss kantonalem Verteilschlüssel aufnehmen muss.

Viele Gemeinden stossen an ihre Kapazitätsgrenzen. Der Flüchtlingsstrom reisst nicht ab. Bereits wird laut über Containersiedlungen nachgedacht.

Ernst: In Küsnacht wird das kaum notwendig sein.

Heisst das, dass Sie noch mehr Geflüchtete aufnehmen können – und auch wollen?

Ernst: Das habe ich nicht gesagt. Entscheidend ist weniger das theoretische Kontingent als der konkrete Bedarf. Im Notfall finden sich immer Möglichkeiten.

Sie, Herr Lüchinger, haben spontan drei Reisecars an die polnisch-ukrainische Grenze geschickt, um geflüchtete Menschen in die Schweiz zu holen.

Alexander Lüchinger: Ich leite in den Städten Shytomir und Winnyzja Bauprojekte, dabei geht es um nachhaltige Fernheizungsanlagen. Als die russischen Panzer in der Ukraine einfielen, habe ich gemeinsam mit meinen Partnern  unternehmerische Verantwortung wahrgenommen und die Frauen und Kinder jener Männer in ­Sicherheit gebracht, die in der Ukraine für uns arbeiten. Wir haben sie mit einem Bus abgeholt und alle bei Schweizer Familien unterbringen können.

Und dann waren da noch die krebskranken Kinder ...

Lüchinger: Noch während der Reise vom polnischen Lublin in die Schweiz erreichte mich im Bus eine Anfrage: Der Bürgermeister von Shytomir hatte ursprünglich die Schweizer Botschaft ersuchen wollen, eine Gruppe von Kindern in die Schweiz zu ­holen; sie waren an Krebs erkrankt und mussten dringend behandelt werden. Da zu jenem Zeitpunkt die Botschaft bereits geschlossen war, habe ich diese Aufgabe übernommen. Mit zwei weiteren Bussen sind wir noch einmal Richtung Ukraine gefahren und haben die Kinder samt ihren Angehörigen nach Küsnacht geholt, insgesamt rund 80 Menschen.

Und Sie, Herr Ernst, mussten entscheiden, ob Küsnacht dieser Herausforderung gewachsen ist.

Ernst: Und zwar innert Minuten! Als Gemeindepräsident handle ich ja nicht im ­eigenen Interesse, sondern stellvertretend für die Menschen im Dorf. Zudem konnte ich kaum abschätzen, was auf uns zukommt, als ich erfuhr, dass krebskranke Kinder und behinderte Erwachsene unterwegs sind, um in Küsnacht Zuflucht zu suchen. Wenn ich solche Entscheide fällen muss, gehe ich davon aus, dass man mich gewählt hat, weil eine Mehrheit der Bevölkerung mir vertraut. Und so entscheide ich halt doch nach bestem Wissen und Gewissen und vertraue darauf, dass es schon gut kommt – nicht zuletzt, weil ich auf Unterstützung von allen Seiten zählen kann.

Was kostet dieser politische Entscheid?

Ernst: Die Rechnung ist nicht ganz einfach: Vom Kanton bekommen wir 39 Franken pro Tag und Flüchtling, rund 1200 Franken im Monat – damit kommt man nicht weit. Die Kosten für Betrieb und Miete des Sonnenhofs sind noch unklar, wir rechnen für die 120 Flüchtlinge mit 2,5 bis 3 Millionen Franken Gesamtaufwand pro Jahr, davon werden 1,7 Millionen vom Kanton zurück­erstattet. Einen grossen Anteil machen die Bildungskosten aus: Wir mussten drei neue Klassen für Kinder aus der Ukraine einrichten. Unter dem Strich rechne ich mit etwa 1 Million Franken, die uns dieses Engagement zusätzlich kosten wird. 

Gleichzeitig haben Sie, Herr Ernst, hier in Küsnacht einen Krisenstab aufgebaut.

Ernst: Die Situation war tatsächlich kritisch; es kam dann ja auch noch die Anfrage, ob wir zusätzlich eine Gruppe mehrfach behinderter Menschen aufnehmen könnten, die aus der Ukraine geflüchtet und vorerst in Deutschland Zuflucht gefunden hatten. Innert dreier Tage mussten wir für all diejenigen, die nicht bei Privatfamilien untergekommen waren, ein Dach über dem Kopf organisieren. Zum Glück zeigte sich die Stadt Zürich flexibel und stellte uns den seit fünf Jahren stillgelegten Sonnenhof zur Verfügung.

Besteht der Krisenstab noch?

Ernst: Der ist längst aufgelöst worden. Während der Krieg in der Ukraine eskaliert, ist die kritische Phase in Küsnacht überstanden. Der Sonnenhof musste zwar notfallmässig in kürzester Zeit aus dem ­Dornröschenschlaf geweckt und eingerichtet werden; inzwischen haben wir Möbel ­besorgt und Installationen vorgenommen, wir können den Betrieb auf längere Zeit aufrechterhalten. 

Wie geht es diesen Kindern heute?

Lüchinger: Die behandelnden Ärzte vom Kinderspital kümmern sich intensiv um ihre kleinen Patienten; die meisten werden ambulant behandelt, manche Kinder müssen sehr intensiv betreut und auch tageweise für Chemotherapien hospitalisiert werden.

Ernst: Schon am ersten Tag sind hier im Sonnenhof drei Behandlungsräume eingerichtet und alle Kinder untersucht worden. Zum Glück musste kein Kind direkt ins ­Spital eingewiesen werden.

Lüchinger: Ein Junge, dem es besonders schlecht geht, muss drei Wochen lang täglich nach Villigen ins Paul-Scherrer-Institut gebracht und einer Protonen-Therapie unterzogen werden. Anderen geht es wieder viel besser, sie müssen keine Medikamente mehr nehmen und stehen nur noch unter Beobachtung.

Es soll auch Flüchtlinge geben, die wieder in die Ukraine zurückgekehrt sind  ...

Lüchinger: Eine junge Mutter, eine Bankangestellte, die um ihre Anstellung fürchtete, ist mit ihrem Sohn nach Shytomir zurückgekehrt. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut, wir stehen täglich mit ihr in Kontakt. Es gibt ein Gesetz in der ­Ukraine, das Firmen nach dem 9. Mai nicht mehr verpflichtet, geflüchteten Arbeit­nehmern den Arbeitsplatz frei zu halten.

Wie reagiert die Küsnachter Bevölkerung auf die vielen ukrainischen Flüchtlinge?

Ernst: Sehr positiv. Ich bekomme eigentlich nur aufmunternde Reaktionen. Die Küsnachter zeigen sehr viel Solidarität. Und erfreulicherweise engagieren sich auch einige Expats als Freiwillige und leisten wertvolle Unterstützung.