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Ganz Küsnacht steht im Einsatz für die geflüchteten Ukrainer

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Der «Sonnenhof» ist das neue Zuhause von Flüchtlingen aus der Ukraine. Über 100 Menschen sind in der vergangenen Woche mit Bussen und dank Einzelinitiativen nach Küsnacht gekommen. Ein Protokoll der turbulenten letzten Tage.

Das kleine Mädchen hat den Buggy ins ­Igluzelt geholt und ihre Puppe auf eine weiche Decke gelegt. Sie soll jetzt schlafen. Und endlich zur Ruhe kommen.

Das Mädchen selber aber mag nicht schlafen. Immer wieder erscheint sein Kopf im halb geöffneten Reissverschlusseingang. Ist draussen alles ruhig? Sind die anderen noch da?

Die anderen – ein gutes Dutzend Kinder, mehrheitlich Mädchen – kuscheln mit dem riesengrossen Teddybären auf einer Matratze. Sie blättern in den Büchern mit schönen Bildern und komischen Buchstaben. Sie stehen am Fenster und gucken hinaus in den Frühling. In der Ferne glitzert der See. An den Sträuchern und Bäumen gehen die Knospen auf. Das Leben kommt zurück. 

Es ist seltsam still in diesem Spielzimmer; da ist kein Herumtoben, kein Geschrei, kein Lachen, kein Weinen.

Seit zehn Tagen wieder bewohnt

In der Vergangenheit mag dieses Kinderzimmer ein Aufenthaltsraum gewesen sein. Menschen am Abend ihres Lebens ­haben hier vielleicht einen Jass geklopft. Oder einen Pulli gelismet. Oder die Zeitung gelesen. Der Sonnenhof war eine Seniorenresidenz, bevor die Stadt Zürich, die Besitzerin der Liegenschaft an der Grenze zwischen den Gemeinden Küsnacht und Erlenbach, den Betrieb eingestellt hat.

Seit zehn Tagen ist der Sonnenhof wieder bewohnt, aus dem ehemaligen Altersheim ist ein improvisiertes Kinderheim geworden, auch ein Mütterheim und ein Behindertenheim – kurz: eine Herberge, in der die bedauernswertesten Kriegsopfer vorübergehend aufatmen können.

Unter den bislang mehr als zehntausend Geflüchteten, die der Hölle des ukrainischen Blutvergiessens entkommen sind und den Weg in die Schweiz gefunden haben, hat die Gemeinde Küsnacht die verletzlichsten aufgenommen: Kinder, die an Krebs erkrankt sind, Jugendliche und auch erwachsene Personen mit geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung sowie deren Betreuer und Angehörige – insgesamt über hundert besonders schutzbedürftige Menschen.

Die Gemeinde hat ihre Rolle als Zufluchtsort für die ärmsten unter den Geflüchteten nicht gesucht. Noch vor zwei Wochen sah Gemeindepräsident Markus Ernst im Interview mit dieser Zeitung «keine akute Notsituation», räumte aber ein, dass die Gemeinde «kurzfristig eine grössere Zahl von Flüchtlingen» aufnehmen könne. Zugleich hatte er die Bevölkerung aufgerufen, allfällige private Unterkunftsmöglichkeiten für Flüchtlinge anzumelden. Noch ahnte er nicht, wie dramatisch sich die Ereignisse in den folgenden Tagen überstürzen sollten – und wie gross die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung tatsächlich ist.

Plötzlich ein Krisenstab

Zehn Tage später, am vergangenen Wochen­ende, betritt der Gemeindepräsident – unrasiert und sichtlich übernächtigt – den Sitzungsraum des Altersheims. Er habe in den letzten vier Nächten kaum mehr als vier Stunden Schlaf gefunden, entschuldigt sich der Präsident, bevor er die Sitzung des Krisenstabs mit dem täglichen Briefing eröffnet. Mit ihm sitzen die Gemeinderäte Walter Matti und Susanna Schubiger am Tisch, ausserdem Projektleiter Dominic Rossier und Koordinatorin Emine Birgi ­sowie die privaten Fluchthelfer Alexander Lüchinger und Daniela Bärtschi.

Die Initiativen des Unternehmers Alexander Lüchinger sowie des Ehepaars Ulrich und Daniela Bärtschi haben letztlich den Ausschlag für die Rolle der Gemeinde Küsnacht als Flüchtlingshotspot gegeben.

Seit über zehn Jahren leitet der Ingenieur Alexander Lüchinger in den ukrainischen Städten Schytomir und Winnyzja – beide sind etwa so gross wie Winterthur und Zürich und befinden sich hundert beziehungsweise zweihundert Kilometer westlich von der Hauptstadt Kiew – zwei ehrgeizige umweltverträgliche Energieprojekte: Nach dem Vorbild der Schweizer Energie-Städte und unterstützt vom Seco sowie örtlichen Behörden, will Lüchinger die Fernwärmekraftwerke mit nachhaltiger Holzschnitzelenergie optimieren. Regelmässig reiste der 69-jährige Ingenieur von der Forch in die Ukraine, um seine ­­Baustellen zu besuchen. Das Projekt in Winnyzja ist praktisch abgeschlossen, jenes in Schytomir steht kurz vor der Vollendung.

Doch dann kommen Putins Panzer und überrollen das Land – und Putins Raketen und Bomben entfachen einen tödlichen Feuersturm, der ganze Städte in Schutt und Asche legt.

Rettungsaktion Lüchinger

Der Küsnachter Lüchinger zögert keine Sekunde: Mit einem Reisebus, den das Walliser Car-Unternehmen Zerzuben gratis zur Verfügung stellt, fährt er in die polnische Grenzstadt Lublin und holt die Frauen und Kinder seiner lokalen Mitarbeiter in die Schweiz; die Männer dürfen nicht ausreisen; sie müssen ihr Land verteidigen. Noch auf der Rückreise im Bus erreicht ihn ein dringliches Mail aus Schytomir: Der Bürgermeister fragt an, ob er noch einmal ­zurückkehren und krebskranke Kinder ­retten könne.

Und so fährt Alexander Lüchinger, kaum von einer Corona-Erkrankung genesen, erneut 1500 Kilometer Richtung Osten, diesmal mit zwei Bussen, die mit rund 20  000 Franken aus der Gemeindekasse finanziert werden, und bringt 24 krebskranke Kinder und deren Angehörige – insgesamt über 70 Personen – nach Küsnacht.

In Küsnacht ist jetzt die Gemeinde gefordert; denn anders als bei den Geflüchteten vom ersten Transport können kranke Kinder nicht ohne weiteres bei Privatfamilien aufgenommen werden. In dieser Situation bot sich bald einmal der Sonnenhof als erste Anlaufstelle an. «Das ging sehr unbürokratisch», freut sich Gemeindepräsident Ernst. «Innerhalb von drei Stunden haben wir den Schlüssel von der Stadt bekommen.» Und jetzt ging es erst richtig los: «Wir hatten gerade mal drei Tage Zeit, um eine grosse Liegenschaft, die fünf Jahre lang ausser Betrieb war, wiederzubeleben – und wieder mit Leben zu füllen.» 

In Blitzaktion Haus bereit gemacht

Das Haus musste gereinigt, alle Installationen mussten instand gesetzt und die Räumlichkeiten schliesslich auch noch möbliert werden. Ernst: «Wir haben kurzerhand lastwagenweise Betten, Tische und Stühle sowie medizinisches Material organisiert. Ein paar Gratis-Polstergruppen wurden über das Internet besorgt.» Überhaupt – das Internet: «Es liegt auf der Hand, dass diese Menschen vor allem die Verbindung zur Heimat aufrechterhalten wollen. Also mussten die Werke am Zürichsee AG das ganze Haus mit W-Lan-Routern ausstatten. Normalerweise dauert das Wochen; in dieser Notsituation war alles innert Stunden installiert.» Ähnlich unkompliziert ist auch die Verpflegung auf die Beine gebracht worden:  Von heute auf morgen stellten die Alters- und Gesundheitszentren Küsnacht täglich ein Frühstück und zweimal  warme Mahlzeiten für 120 Personen zur Verfügung.

«In der ersten Phase sieht das vielleicht nach einem Hotelbetrieb aus», räumt Ernst ein. «Aber das soll kein Dauerzustand werden. Mit der Zeit sollen sich die Menschen so organisieren, dass aus dem Hotel eine grosse, selbstständige Wohngemeinschaft wird.»

Auch das Kinderspital Zürich zieht alle Register, um die medizinische Betreuung der krebskranken Kinder sicherzustellen. Als Lüchingers Busse am Donnerstagmorgen beim Sonnenhof vorfahren, ist bereits ein medizinisches Team vor Ort, um die kleinen Patienten gründlich zu untersuchen. Keines der Kinder, so ein erster Befund, sei in einem so schlechten Zustand, dass eine sofortige Spitaleinweisung angebracht ist. Für Alexander Lüchinger ist die Flut von Lobeshymnen und Danksagungen, mit der er seit seiner Rückkehr eingedeckt wird, «fast schon ein bisschen zu viel der Ehre; ich hab ja nur die unternehmerische Verantwortung für meine Mitarbeiter in der Ukraine wahrgenommen.»

«Selbstverständliche Nächstenliebe»

Auch für Daniela und Ulrich Bärtschi ist das Engagement für die Opfer des Krieges nichts anderes als «das selbstverständliche Gebot christlicher Nächstenliebe». Ähnlich wie Lüchinger hat auch Bärtschi, der als Physiotherapeut mehrere Praxen betreibt, geschäftliche Beziehungen zur Ukraine gepflegt: Er war im Begriff, in dem Land den Aufbau von Rehabilitationszentren für verschiedene Therapien zu unterstützen, als der Ausbruch des Krieges diese Pläne abrupt zunichtemachte. Etwa zur selben Zeit, als Lüchinger mit den krebskranken ­Kindern unterwegs in die Schweiz war, erreichte Bärtschi ein Hilferuf: Einer Gruppe von multipel behinderten Menschen, die Bärtschi in der Ukraine persönlich betreut hatte, war zwar die Flucht aus der Ukraine nach Deutschland gelungen, dort aber seien sie unter Verhältnissen untergebracht worden, «die gelinde gesagt alles andere als ideal waren». 

Unverzüglich nahm Ueli Bärtschi Kontakt mit Markus Ernst auf, dem Leiter des Küsnachter Krisenstabes – und dieser organisierte zusammen mit Daniela Bärtschi die Reise von 38 ukrainischen Patienten aus dem baden-württembergischen Bad Bel­lingen in den Sonnenhof nach Küsnacht. Auch diese Neuankömmlinge benötigten sofort medizinische Unterstützung, die vom Küsnachter Arzt Andreas Steiner mit Unterstützung von Mitarbeitenden des Spitals Männedorf vor Ort gewährleistet wurde. Die notwendigen Medikamente lieferte die Rotpunkt-Apotheke innert Stunden gratis in den «Sonnenhof».

Und so kommt es, dass die ukrainische Tragödie krebskranke Kinder, schutzbedürftige Jugendliche und Erwachsene sowie deren Angehörige zu einer hundertköpfigen Lebensgemeinschaft zusammengeschweisst hat. Mit den freiwilligen Helferinnen und Helfern hoffen und warten sie auf den Frieden. Und auf die Rückkehr in die Heimat.

Im Spielzimmer ist das kleine Mädchen aus dem Igluzelt herausgekrochen. Es schiebt die Puppe im Buggy vor sich her und gesellt sich zu den anderen Kindern, die noch immer den grossen Bären knuddeln.

«Ya vzhe ne boiusia, sagt das Mädchen.

Und Anna Uminska, eine junge Mutter, die mit Alexander Lüchinger aus der Ukraine nach Küsnacht geflohen ist, übersetzt: «Sie sagt: Ich habe jetzt keine Angst mehr!»