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«Ich setze auf die Solidarität aller»

Erstellt von Daniel J. Schuez |
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Als Gemeindepräsident von Küsnacht ruft Markus Ernst (FDP) die Bevölkerung auf, Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. Als Brigadier der Schweizer Armee denkt er laut über den neuen Krieg nach – und über die Rolle der Schweiz in einer veränderten Welt.

Markus Ernst, haben Sie Angst? 

Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber, auch wenn die Situation durchaus besorgniserregend ist: Dieser Konflikt hat sehr viele Aspekte – und das, was heute in der Ukraine geschieht, wird für Jahrzehnte nachwirken. Vor 32 Jahren leitete der Fall der Berliner Mauer die Entspannung nach dem Kalten Krieg ein. Jetzt erleben wir eine ähnliche Zäsur in der Geschichtsschreibung: Das Pendel schlägt auf die andere Seite aus.

Putin schwingt unverhohlen die Atom-Keule und lässt Kernkraftwerke beschiessen. Wie soll man da keine Angst haben?

Statt sich zu ängstigen könnte man tun, was sinnvoll ist – zum Beispiel vorbeugen: Es ist eine gute Idee, einen Notvorrat anzulegen. Und es ist bestimmt auch nicht falsch, diesen Notvorrat mit genügend Trinkwasser zu ergänzen – auch wenn das beim einen oder anderen belächelt wird. Auch zu Beginn der Pandemie hat man noch Leute belächelt, die eine Maske trugen. Heute wissen wir es besser. Und wir haben gesehen, wie schnell sich die Situation ändern kann: Noch vor einem Monat war ein konventioneller Krieg mitten in Europa unvorstellbar.

Millionen von Flüchtlingen sind auf dem Weg nach Westen; sie kommen auch in die Schweiz, auch nach Küsnacht. Welche Vorkehrungen trifft die Gemeinde, um den Ukrainern zu helfen?

Kaum hat sich die Corona-Pandemie etwas beruhigt, mussten wir erneut einen Krisenstab einrichten ...

... den Sie leiten ...

... und der diesmal – anders als bei Corona – nicht mit Ärzten besetzt ist, sondern leitenden Mitarbeitenden aus den Bereichen Gesellschaft, Sicherheit, Zivilschutz und Werke am Zürichsee. Es gilt, verschiedene Aspekte zu berücksichtigen.

Mit wie vielen Flüchtlingen rechnen Sie?

Kurzfristig glaube ich nicht, dass eine sehr grosse Welle anrollen wird, noch besteht keine akute Notsituation. Wir wären aber notfalls in der Lage, auch kurzfristig eine grössere Anzahl Personen in unserer Gemeinde unterzubringen. Dabei geht es in diesem Fall ja nicht um Asylsuchende, die sesshaft werden wollen, sondern um besonders schutzbedürftige Menschen, vor allem Frauen und Kinder; die vor einem Krieg aus ihrer Heimat fliehen. Sie wollen so bald wie möglich zurückkehren und ihr Land wieder aufbauen. Die wehrfähigen Männer hingegen dürfen ihr Land gar nicht verlassen.

Wie wollen Sie die geflüchteten Menschen unterbringen?

Zunächst bin ich zuversichtlich, dass sie privat aufgenommen werden können. Von der Betreuungsphilosophie her macht ist es viel mehr Sinn, wenn eine Mutter mit ihren Kindern bei einer Familie zu Gast ist, statt sie in einer grossen zentralen Unterkunft einzuquartieren.

Ist das der Aufruf des Gemeindepräsidenten an die Küsnachter Bevölkerung, sich zu melden, wenn irgendwo bewohnbare Räume zur Verfügung gestellt werden können?

Noch besteht kein akuter Handlungsbedarf, aber ja, es wäre wünschenswert, dass man sich mit solchen Gedanken auseinandersetzt. Einige Küsnachter haben auch schon bei verschiedenen Hilfs-Organisationen ihre Absicht kundgetan, Flüchtlinge aufzunehmen. Wichtig ist auch, dass die Menschen bei der Gemeinde registriert werden – nicht nur wegen der generellen Meldepflicht. Entscheidend ist auch, dass man offiziell weiss, wer wo Zuflucht gefunden hat, damit Freunde und Verwandte einander finden können und nicht plötzlich jemand als verschollen gilt. Ausserdem müssen die Menschen unter anderem auch bei einer Krankenkasse angemeldet werden – und die Gemeinde kann ihnen finanziell unter die Arme greifen.

Wie sieht diese Unterstützung konkret aus?

Das muss im Detail geregelt werden, wenn es so weit ist. Es hat mich überwältigt, wie gross die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist. Es sind Leute spontan ins Auto gesessen und haben sich auf den Weg an die polnisch-ukrainische Grenze gemacht, um Flüchtlinge sie in die Schweiz zu holen.

Was sehen Sie vor, wenn viel mehr Flüchtlinge kommen, als private Betten verfügbar sind?

Unser Krisenstab ist dabei, weitere Möglichkeiten zu evaluieren, dazu werden in diesen Tagen Resultate vorliegen. Aber noch einmal: Ich bin überwältigt von der grossen Hilfsbereitschaft und Solidarität unserer Bevölkerung.

Wie sieht es mit der Hilfe vor Ort aus? Wäre es nicht sinnvoll, wenn die Gemeinde einen Lastwagen voller Schlaf­säcke in die Grenzregionen schickt, wo die Geflüchteten jetzt in Bahnhöfen und U-Bahn-Stationen frieren.

Nicht nur Schlafsäcke – auch Lebensmittel, Medikamente, Wolldecken, Hygieneartikel werden dringend gebraucht. Dafür ist in erster Linie das Deza zuständig, die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit beim Departement für auswärtige Angelegenheiten.

Als Brigadier sind Sie einer der höchsten Offiziere der Schweizer Armee, als stellvertretender Kommandant der Territorialdivision 2 zuständig für die Kantone Aargau, Luzern, Solothurn, beide Basel sowohl Ob- und Nidwalden. Würden Sie im Kriegsfall nicht lieber jene Gemeinde verteidigen, in der Sie wohnen und der sie als Präsident vorstehen?

Ich rechne in absehbarer Zeit nicht mit einer kriegerischen Auseinandersetzung in der Schweiz. Es ist auch generell nicht sinnvoll, wenn man an einem Ort zur selben Zeit zwei verschiedene Funktionen ausübt.

Hat Sie die geschlossene Solidarität der Staatengemeinschaft überrascht, auch diese Einigkeit bei den Sanktionsbeschlüssen?

Nicht wirklich. Eine dermassen eklatante Verletzung des Völkerrechts kann man doch nicht unbeantwortet lassen. Ein Land, das sich gegen eine Besatzungsmacht zur Wehr setzt, geniesst zu Recht die Sympathie der freien Welt – es muss unterstützt werden. Die Geschichte zeigt immer wieder, dass ein Volk, das um seine Selbstbestimmung kämpft, auf Dauer nicht besiegt werden kann. Das haben wir schon im Kolonialismus gesehen, aber auch in Vietnam, im Irak oder in Afghanistan.

Es hat peinlich lange gedauert, bis der Bundesrat sich dazu durchgerungen hat, seine Neutralitätsbedenken zu überwinden und die Sanktionen der EU zu übernehmen. Ist eine Neutralität, die ein Land zum Komplizen eines Schurkenlandes machen kann, noch zeitgemäss?

Unsere Neutralität hat eine lange Tradition und ist immer wieder in Frage gestellt worden. Im Wesentlichen geht es um die militärische Neutralität: Es wäre schwierig, wenn die Schweiz einem kriegführenden Land Waffen lieferte. Aber politisch neutral sein heisst nicht, dass man untätig zuschauen muss, wie ein Machthaber das Völkerrecht verletzt.

Mit seinem Überfall auf die Ukraine hat Russland nicht nur dem Brudervolk, sondern dem ganzen freien Westen – und als Autokrat der Demokratie – den Krieg erklärt.

So weit würde ich nicht gehen. Viele andere Staaten, etwa China, das bevölkerungsreichste Land der Welt, sind autokratische Systeme. Aber in einem Punkt stimme ich Ihnen bei: Es ist ein Wandel der Systeme im Gang.

Wie schätzen Sie die Gefährlichkeit eines Wladimir Putin für den Weltfrieden ein?

Dieser Weltfrieden war schon immer eine Illusion, den hat es ja noch nie wirklich gegeben. Und mit der Ukraine vergreift sich Putin ja auch nicht zum ersten Mal an einem autonomen freien Land; in der neueren Zeit sind schon Kriege in Syrien, Afghanistan, Tschetschenien, Georgien ausgetragen worden – und vor acht Jahren mit der Annexion der Krim – auch schon in der Ukraine. Wer jetzt ganz erstaunt Richtung Kreml schaut und sagt: Ja, also ich hätte schon nicht erwartet, dass der Putin so ein Böser ist – also der ist beim Zeitungslesen nie über den Lokalteil hinausgekommen. Ich würde nicht seit dreissig Jahren Militärdienst leisten, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass es auf dieser Welt nicht schon immer Spinner gegeben hat und geben wird, denen man etwas entgegensetzen muss.

Glauben Sie im Ernst, dass die Schweizeinen Putin aufhalten könnte?

Ich glaube an das Prinzip der Dissuasion: Jeder potenzielle Gegner muss wissen, dass es sich nicht lohnt, in die Schweiz einzumarschieren. Der Preis, den er zahlen müsste, wäre zu hoch ...

... und auch in der Ukraine sieht es derzeit ja auch danach aus, als müsse Putins Armee einen hohen Preis bezahlen.

Tatsächlich haben sich Länder, die ihre Freiheit gegen übermächtige Gegner verteidigen, langfristig fast immer durchsetzen können.

Ist die Schweizer Armee wegen der Ukraine-Krise in höhere Alarmbereitschaft versetzt worden?

Man muss das realistisch sehen: Wenn in tausend Kilometer Entfernung ein Konflikt so heftig tobt, gibt es schon Bereiche in der Armee, in denen etwas mehr läuft ...

... zum Beispiel?

Im Bereich vom Schutz des Luftraums oder bei der Cybersicherheit.

Was wäre für Sie das Worst-Case-Szenario?

Wenn der Krieg auf weitere Länder übergreift; ein Flugverbot über der Ukraine würde bedeuten, dass Nato-Soldaten dieses überwachen und militärisch durchsetzen müssten; das wäre die Provokation, die einen Flächenbrand auslösen könnte.

Wäre es nicht angebracht, wenn die Schweiz – wie auch andere Länder, die sich zur bewaffneten Neutralität bekennen – sich unter den Schutzschild der Nato begäbe?

Die Nato funktioniert nach dem Prinzip, dass jedes Mitglied so viel beisteuert, wie seine Möglichkeiten es erlauben – auf jeden Fall 2 Prozent des Brutto­inlandprodukts, das ist eine Frage der Solidarität. Aber ein souveräner Staat, der zwar keine Soldaten in den Krieg schicken, sich aber den Schutz der anderen Mitglieder erkaufen will – das geht gar nicht! Herr Stoltenberg, der Nato-Generalsekretär, würde wohl sagen: Ich schicke euch nicht mal eine Rechnung; aber ihr müsst euren Beitrag leisten – in Form von Soldaten. Kurzum: Die Aufgabe, die Freiheit und Unabhängigkeit des eigenen Landes zu verteidigen, lässt sich nicht outsourcen.

Zurück nach Küsnacht: In welchem Verhältnis steht die Gemeinde zu Wladimir Putin?

In gar keinem. Wie kommen Sie darauf?

Man munkelt, dass die Mutter von Putins Töchtern auf der Küsnachter Allmend eine Liegenschaft besitzt ...

Zu Spekulationen und Gerüchten nehme ich grundsätzlich keine Stellung.