Abo bestellen

«Kontakt zum früheren Umfeld abgebrochen»

Zurück

Zuletzt sass er in der U-Haft: Die Drogensucht machte den Bauarbeiter zum Kriminellen. Jetzt lebt Thomas (36) in der sozialtherapeutischen Einrichtung Freihof Küsnacht. Ohne Gitter und Wächter. Aber mit strengem Programm.

 Bis aus einem Klumpen Lehm ein Schmetterling wird, braucht es so manches: Fingerspitzengefühl, Konzentration, Geschick, Geduld und Fantasie. Im Atelier des Freihofs hat Thomas* all das gefunden. Wenn er aus seinen eigenen Händen etwas schafft, ist er wieder ganz bei sich.

Tatsächlich war er ganz unten, als er vor einem Jahr in die sozialtherapeutische Einrichtung in Küsnacht kam. Dabei wollte er hoch hinaus, Höchstleistungen erbringen. «Um auf dem Bau, wo ich als Schaller im Akkord arbeitete, den Druck aushalten zu können, dopte ich mich mit Kokain und Heroin.» Das hat auch ganz gut geklappt. Eine Zeit lang. Bis Drogen, Entzüge und Beschaffungskriminalität sein Leben bestimmten. Zuletzt war er in U-Haft. «Einbruch, Diebstahl, Dealerei und Hehlerei», sagt er und grinst verlegen.

Lieber Entzug als Gefängnis

Er beantragte beim Gericht von sich aus, vorzeitig in den stationären Massnahmevollzug einzutreten, was ihm gewährt wurde. «Ich bin mir bewusst geworden, dass ich abstinent leben möchte.» Das bedeutet einen Entzug und eine Entwöhnung in einer Klinik und eine Langzeittherapie im Freihof Küsnacht. Beim Gerichtsprozess wurde die Freiheitsstrafe von 22 Monaten aufgeschoben. Das heisst, wenn er aufgibt, wenn er alles hinschmeisst, muss er ins Gefängnis zurück. «Es ist der letzte Zwick an der Geisel», auch das ist sich Thomas bewusst.

Der Weg zur Drogenabstinenz heisst «Suchttherapie», «Deliktarbeit» und «Resozialisierung». Übersetzt bedeuten diese drei Wörter, dass er einen schweren Kampf vor sich hat. Den gegen sich selbst und seine Gewohnheiten. Abhängigkeiten bleiben eben, was sie sind: extrem schwer zu überwinden. Sie manifestieren sich im Gehirn, manche hinterlassen ihre Spuren dauerhaft. Die meisten Abhängigen benötigen deshalb mehr als einen Anlauf, um sich von einer Substanz zu lösen. «Jeden Tag stehe ich auf und jeden Tag entscheide ich mich aufs Neue, hierzubleiben und weiterzumachen.»

Früher, erzählt Thomas, lebte er gleichzeitig in der Vergangenheit und in der Zukunft. Er habe Schuld- und Schamgefühle gehabt, wegen der vielen nicht wieder gut zu machenden Fehler. Und Angst vor dem Übermorgen, weil er nicht wusste, ob er es schaffen würde. Jetzt lebt Thomas nach dem Motto: «Für heute bin ich clean.»

Austausch ist zentral

In der Bewältigung seiner eigenen Krise hat der 36-Jährige mittlerweile so viele Fortschritte erzielt und Kompetenzen erworben, dass er in einer Entzugsklinik als «Peer» seine Erfahrungen und Bewältigungsstrategien an ratsuchende Betroffene, im Rahmen eines Praktikums, weitergeben und sie begleiten konnte. Dabei ist der Austausch über die eigene Betroffenheit zentral. Nach dem Praktikum hat er bereits eine weiterführende Ausbildung quasi zum Erfahrungsexperten ins Auge gefasst. «Ich kann gut mit den Leuten reden und Lösungen aufzeigen», erzählt Thomas. «Aber es ist nicht immer einfach, diese umzusetzen.»

Einfach gibt es nicht, wenn es um Sucht geht, das weiss er aus eigener Erfahrung. Wegen der Beratungen muss er sich notwendigerweise auch immer wieder mit sich selbst und seiner eigenen Sucht auseinandersetzen. «Das ist nicht immer einfach, aber notwendig, damit die Sucht im Bewusstsein bleibt. Verdrängen hilft nichts.»

Der schwierigste Teil setzte für Thomas bereits vor dem Eintritt in den Freihof ein: Er brach den Kontakt zu seinem drogenkonsumierenden Umfeld ab, auch zu seiner Freundin, um sich von dieser Dynamik des gegenseitigen Runterziehens zu befreien. Im Freihof, wo er drei Jahre bleiben wird, geht es darum, wieder die Kontrolle über das eigene Leben, das Denken, Fühlen und Handeln zurückzugewinnen.

Dazu müssen belastende Gedanken, Einstellungen und Bewertungen erst erkannt, dann geändert und schliesslich ein neues Verhalten trainiert werden. Schritt für Schritt. «Es ist wie beim Töpfern», sagt Thomas. «Aus einer Vision und einem Klumpen Lehm wird nach und nach ein konkreter Gegenstand.» * Name geändert

(Isabella Seemann)