Bald werden alle Geschäfte wieder öffnen und irgendwann auch die Restaurants. Doch alte und schwache Menschen sollten weiterhin zu Hause bleiben. Zwei Küsnachterinnen helfen mit dem neuen Gratis-Lieferservice «E-Cargo for you».
Verena G. beginnt den Tag gerne mit einem frischen Vollkornbrötli zum Kaffee. Seit Wochen allerdings wagt sich die 91-jährige Küsnachterin nicht mehr aus dem Haus – sie fürchtet das Virus. Stefan von Burg backt neben frischen Vollkornbrötli auch Butterzöpfe, Laugengipfel – und bald wieder die beliebten Bio-Erdbeertörtli. Doch seit die Restaurants schliessen mussten und immer mehr Kunden zu Hause bleiben, verzeichnet das Gewerbe allerorten massive Umsatzeinbrüche.
Die betagte Dame und der Bäckermeister stehen für ein soziales Dilemma, das mit dem Coronavirus in die Welt gekommen ist: Hier die Senioren, deren Leben bedroht ist; dort die Gewerbetreibenden, deren Zukunft auf dem Spiel steht. Derweil mögen zwei Küsnachterinnen nicht länger tatenlos zusehen, wie die Pandemie die Gesellschaft spaltet und die politischen Lager Gesundheit gegen Geschäft, Wohlstand gegen Wohlfahrt ausspielen. Die beiden könnten Tochter und Mutter sein: Caroline Fürstenberg, 31, und Regula Glättli, 61. Caroline ist in Bayern aufgewachsen, hat in London Innovationsmanagement studiert und in der Finanzwirtschaft ihre Sporen abverdient. In freien Stunden frönt sie ihrer grossen Leidenschaft und engagiert sich als Yoga-Lehrerin. Vor einem Jahr ist sie in die Schweiz gezogen und hat in Küsnacht Wurzeln geschlagen.
Hier hat sie Regula Glättli kennen gelernt, eine Unternehmerin, die ebenfalls in Küsnacht lebt und sich in Hombrechtikon mit dem Velofachgeschäft «E-Motion» auf den Handel mit kräftesparenden E-Bikes spezialisiert hat. Das war vor mehr als einem Monat, kurz nachdem der Bundesrat das öffentliche Leben in den Lockdown geschickt hatte.
Die Idee kam ganz spontan
Caroline Fürstenberg hatte zunächst nur ein Brot kaufen wollen. Im Laden des Bäckers von Burg waren höchstens zwei Kunden zugelassen; draussen auf dem Trottoir wurde die Schlange der Wartenden, die sich an die Vorschrift der sozialen Distanz halten mussten, lang und länger. Ganz hinten stand Caroline Fürstenberg. «Mir fiel auf, wie viele Senioren in der Reihe warteten, alles Menschen, die doch eigentlich zu Hause bleiben sollten – zu ihrem eigenen Schutz.» Sie vergass, dass sie eigentlich Brot hatte kaufen wollen – und fragte nach dem Chef. «Den alten Leuten könnte man das Brot doch mit dem Velo nach Hause liefern», schlug sie dem Bäckermeister vor. Stefan von Burg betreibt zwar bereits einen eigenen Lieferservice, aber er erkannte das Schutzbedürfnis der Senioren und damit die wachsende Nachfrage nach zusätzlichen Lieferungen. «Ich habe das Angebot, ältere Kunden im näheren Umkreis mit dem Velo zu beliefern, gerne angenommen.»
Sofort machte sich Caroline Fürstenberg auf die Suche nach einem passenden Mietvelo – es musste leicht zu fahren sein und gute beladen werden können. So etwas hatte nur Regula Glättli im Angebot – und die war hell begeistert. «Nichts ist mit mieten», sagte sie. «Das Bike kriegst du von mir gratis.»
Die Jüngere hatte die zündende Idee und den sportlichen Elan, die Ältere steuerte die technische Infrastruktur und das fachliche Know-how bei – und beide sind beseelt von sozialer Nächstenliebe und kreativem Unternehmergeist. «E-Cargo for you» war geboren – ein gemeinnütziges Projekt, das allen unter die Arme greifen will, den Anbietern und den Kunden: «Wir unterstützen die Detailhändler, indem wir ihre Produkte abholen und liefern», erklärt Regula Glättli. «Andererseits wollen wir alten und schwachen Menschen helfen, indem wir ihnen den Gang in den Laden ersparen.» «Und wir setzen Zeichen », ergänzt Caroline Fürstenberg. «Zeichen für die Umwelt und gegen den drohenden Klimakollaps.»
Vorerst bleibt der Gratis-Lieferdienst «E-Cargo for you» auf die «systemrelevanten» Betriebe beschränkt. «Statt bei den Grossverteilern kaufen wir bei kleinen Betrieben ein und legen den Fokus auf biologische und nachhaltige Lebensmittel», sagt Caroline Fürstenberg. Und fügt lächelnd an: «In Krisenzeiten ist es besonders wichtig, dass alle zusammenhalten – gerade auch die kleinen Betriebe im dörflichen Umfeld.»
Sobald auch der Optiker und das Kleidergeschäft, der Schuhmacher und der Uhrenladen ihre Geschäfte wieder öffnen dürfen, ist «E-Cargo for you» auch für sie da – und für deren Kunden, die nach wie vor zu Hause bleiben sollten. «Dann werden wir das Angebot der gestiegenen Nachfrage anpassen müssen», sagt Regula Glättli. «Das Ziel wäre, dass jede Gemeinde am rechten Zürichseeufer ein Cargo-Bike bekommt. »