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Quirin, Nana und die nackte Wahrheit

Erstellt von Daniel J. Schüz (Text und Fotos) |
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Sommerzeit – Porträtzeit: Mit dem Kunstrestauratorenpaar Christian Marty und Petra Helm startet der «Küsnachter» seine Sommer-Stafette 2021. Die Porträtierten entscheiden jeweils selber, an wen der Stab weitergeht. Heute spielen die Hauptrollen die Kunst, ein putziger Welpe und – die Liebe.

Seit ein paar Tagen ist er endlich da – und alles dreht sich nur noch um ihn: Quirin ist noch keine zwei Monate alt und kleiner als die Katze, die sich im üppig bepflanzten Garten vor der neuen Konkurrenz versteckt. Aber für seine beiden Menschen ist Welpe Quirin der Allergrösste.

Draussen vor den grossflächigen Fenstern blühen Rosen in mannigfaltiger Pracht – Natur pur. Drinnen liegen erlesene Kunstbände auf dem Tisch, an den Wänden hängen allerlei Gemälde – Reinkultur.

Quirin hinterlässt eine kleine gelbe Pfütze, Petra hebt ihn hoch und Christian kommt mit dem Haushaltspapier angerannt. «Man sieht es ihm vielleicht noch nicht an», sagt er. Aber der da ist ein Vollblut-Cockerspaniel.» Und fügt nach einer Pause an: «Es gibt Hunde – und es gibt ­Spaniels.»

Und dann erzählen Christian Marty und Petra Helm, wie das Leben so spielt ...

Die Katastrophe, die vor ziemlich genau 28 Jahren die Stadt Luzern heimgesucht und die Freunde historischer Kulturgüter erschüttert hatte, war sozusagen die Initialzündung für eine Liaison, die Bestand hat – auf leidenschaftlicher wie auf professioneller Basis.

Bis heute bleibt die Frage ungeklärt, ob es eine fahrlässig weggeworfene Zigarette war oder bösartiger Vorsatz. Fest steht lediglich, dass die Feuersbrunst, die in der Nacht auf den 18. August 1993 die Luzerner Kapellbrücke zerstörte, auch zahlreiche Kunstwerke von unermesslichem Wert vernichtet hat. Wahr ist aber auch, dass dank der Liebe, die dieses Feuer in der Folge entfacht hat, letztlich wertvolle Kulturschätze in grosser Zahl vor der Zerstörung haben bewahrt werden können.

Es dauerte allerdings noch zwei Jahre, bis der Funke übersprang. Im Sommer 1995 hielt der Küsnachter Restaurator Christian Marty an einer Tagung des österreichischen Restauratoren-Verbandes in Wien einen Vortrag über die Arbeiten zur Wiederherstellung der historischen Giebelgemälde unterm Dach der Kapellbrücke: Von 128 Werken waren nur 23 einigermassen erhalten geblieben. Während Marty sein Referat hielt, stellte sich der Operateur am Projektor, offenkundig nicht mehr ganz nüchtern, so ungeschickt an, dass der Schlitten aus dem ­Gerät glitt und die säuberlich geordneten Dias durch die Luft wirbelten. Marty, der Verzweiflung nahe, rang um Fassung und ging zu Boden, wo Petra Helm, die als ­Vizepräsidentin des Verbandes auch Gastgeberin des Anlasses war, bereits kniete und Dutzende von kleinen gerahmten Fotos einsammelte.

Das war der Moment, in dem ihre Blicke einander fanden – und noch heute strahlen ihre Augen, wenn sie sich an die Episode erinnern, die so treffend das Phänomen der Liebe auf den ersten Blick ­belegt. Selbst der Umstand, dass beide ­bereits in festen Händen waren, konnte den Lauf der Entwicklung nicht aufhalten: Von Stund an waren sie ein Paar.

Petra Helm, 68, geboren und aufgewachsen in Gelsenkirchen, dem Epizentrum des deutschen Ruhrgebiets, hat in Wien, der Heimat ihrer Grosseltern, das Studium der Konservierung und Technologie abgeschlossen. Etwa zur selben Zeit schockierte Christian Marty, 66, aufgewachsen in ­einer Villa zwischen Seestrasse und Seeufer, seine Eltern, als er ihnen eröffnete, dass er wenig Lust habe, das traditions­reiche Textilunternehmen der Familie zu übernehmen, sondern lieber das vergleichsweise brotlose Metier des Restaurators erlernen wolle.

Als Petra in sein Leben trat und sich schon bald abzeichnete, dass die beiden nicht nur als Lebens-, sondern auch als Geschäftspartner eine grosse Zukunft vor sich hatten, glätteten sich die Wogen. «Meine Eltern», erzählt Christian, «haben einander in der Textilwelt perfekt ergänzt: Der Vater führte die Geschäfte und hat dafür gesorgt, dass die Kasse stimmte. Und die Mutter hat nicht nur exklusive Kleider entworfen, sie hat die teuren Kreationen auch als ihr eigenes Model selbst vorgeführt.»

«Sie war ja schon eine Diva – deine Mutter», kommentiert Petra halb scherzhaft. Und ergänzt: «Aber sie hatte auch die entsprechende Klasse.»

Derlei private und berufliche Ergänzungen wiederholen sich von der einen zur nächsten Generation, dabei werden bemerkenswerte Parallelen erkennbar: «Petra hat die Geduld und das Fingerspitzengefühl für die feinen kleinen Details», anerkennt Christian. «Und du», kontert sie, «du bist der Mann der grossen Würfe. Du organisierst und realisierst die monumentalen Projekte.»

Es mag ein Zufall sein, dass ihr erstes gemeinsames Projekt vor einem Vierteljahrhundert «Die nackte Wahrheit» heisst – und das jüngste derzeit auf dem «Berg der Wahrheit» realisiert wird. Damals hat Petra «La nuda verita», das bekannte Aktbildnis von Gustav Klimt, von einer hundert Jahre alten Nikotinschicht befreit und das Gold der nackten Haut wieder zum Glänzen gebracht. Heute lässt sie auf dem Tessiner Monte Verità die ursprünglich paradiesischen Zustände in der «Klarwelt der Seligen» wieder aufblühen, während Christian die technischen Schwierigkeiten gemeistert hat, die ein 360-Grad-Panorama-Bild wie jenes auf dem Berg ob Ascona mit sich bringt.

Mit hundert Quadratmetern ist das Monte-Verità-Paradies vergleichsweise bescheiden dimensioniert. Da hat Marty mit allerlei höllischen Panoramen noch ganz andere Herausforderungen gestemmt. Die berühmte Bourbaki-­Armee in Luzern, wo dreidimensionale Objekte im Raum die dramatischen Szenen auf der zweidimensionalen Leinwand ergänzen, die Schlacht von Atlanta oder die Kriegswirren am Bergisel bei Innsbruck – alles Rundumgemälde, die tausend und mehr Quadratmeter abdecken und oft höchst aufwendige Restaurierungsarbeiten erforderlich machen. Seit 2003 setzen sich Petra Helm und Christian Marty mit ihrem Atelier «Ars Artis» an der Allmendstrasse ehrgeizige Ziele, die ihr Herzensanliegen erkennen lassen: «Wir wollen herausragende Kunstschätze und Kulturgüter pflegen und erhalten», sagt Christian, «nicht mehr und nicht weniger.»

Dazu gehört auch die sorgfältige Pflege des berühmtesten Engels der Schweiz: Die Nana, wie die extravagante Künstlerin Nikki de Saint Phalle ihre prallen, kunterbunten Weibsbilder liebevoll nannte, schwebt seit 24 Jahren an goldenen Schwingen tonnenschwer unter der Decke der grossen Halle im Zürcher Hauptbahnhof. Alle drei Wochen sollte es abgestaubt – und alle zehn bis fünfzehn Jahre gründlich gereinigt werden. Dann packen Christian Marty und Petra Helm ihre Spezialradiergummis ein und Tausende von Wattestäbchen dazu und holen den Engel vom Himmel.

Und auch die Kulturnacht gehört zu diesem Engagement: Als eines von vier OK-Mitgliedern will Christian Marty am 3. September die Küsnachter Kulturnacht nicht nur im Netz steigen lassen: «So, wie es aussieht, kann der Event jetzt auch mit Public Viewing und Grossleinwand im Kirchgemeindezentrum stattfinden. Wir wollen die Kunst zu den Menschen bringen und ihnen einfach nur eine Freude bescheren.»

Und dann gibt es da noch einen Termin, den die beiden sich dick in der Agenda notiert haben – und den sie partout nicht preisgeben wollen. «Ich weiss nur», lächelt Petra vieldeutig, «dass ich ganz gewiss kein weisses Kleid tragen werde ...»

«Und der da», sagt Christian Marty und krault Quirins Köpfchen, «der wird auch dabei sein!»