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Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Fussball interessiert sie «hinten und vorne» nicht. Dennoch hat die Urküsnachterin Kim Wyder ihr Dorf als Co-Leiterin des Public Viewing in der Freizeitanlage Sunnemetzg einen Monat lang die spannendsten EM-Spiele präsentiert. Friedliche, aber euphorische Stimmung inklusive.

In der 75. Minute erlöst Breel Embolo die Nation: Geistesgegenwärtig knipst der schweizerisch-kamerunische Stürmer eine abgefälschte Flanke über die englische Torlinie: 1:0 für die Schweiz – endlich. Samstagabend in Düsseldorf – und auch in Küsnacht: Noch 15 Minuten bis zum Einzug in den Halbfinal – 15 kleine Ewigkeiten ...

«Oh Embolo, oh Embolo», schallt es vieltausendstimmig aus dem Schweizer Fansektor, dieser roten Wand in der Düsseldorfer Arena. Und auch im Küsnachter Public Viewing, in der Sunnemetzg zwischen Seestrasse und Seeufer, ist der Bär los: Draussen prasselt der Regen auf die Zeltblachen, drinnen fliesst das Bier in Strömen – und manch einer bekommt eine kalte Gerstensaftdusche verpasst. 400 Menschen – die kritische Grenze, mehr dürfen die Security-Leute nicht einlassen –, Alte und Junge, Männer und Frauen, Fremde und Freunde; sie tanzen auf den Bänken, umarmen einander und jubeln so ausgelassen, dass man glauben könnte, der Pokal sei schon gewonnen.

Derweil steht eine junge Frau in der Küche der Freizeitanlage und spült Bierhumpen und Karaffen. «Für Fussball», sagt Kim Wyder, der man ihre 37 Jahre nun wirklich nicht ansieht – jaja, grinst sie schelmisch, das höre sie immer wieder –, «für einen Sport, bei dem zweiundzwanzig Männer neunzig Minuten lang hinter einem Ball herrennen, kann ich mich nicht wirklich begeistern.»

Im Hochbetrieb daheim

Die Frau, die bekennt, von Fussball wenig bis gar keine Ahnung zu haben, ist zusammen mit Manuel Häusermann, dem Betriebsleiter der Küsnachter Freizeitanlagen, als Co-Leiterin in der Sunnemetzg für das Public Viewing zuständig. «Das passt ganz gut», lacht sie. «An den Spieltagen herrscht immer Hochbetrieb, da bin ich dauernd irgendwo beschäftigt und krieg vom Spiel eh nichts mit.»

Alle zwei Jahre, wenn Welt- oder Europameisterschaften anstehen, machen die beiden die Freizeitanlage zum lokalen Fan-Mekka. Dann lässt Manuel Häusermann in der grossen Halle zwei Grossleinwände hochziehen, auf dem Vorplatz verlegt er die Kabel für fünfzehn Flatscreens, die strategisch so übers Gelände verteilt werden, dass keiner ein Goal verpasst. Während er für die Technik verantwortlich ist, kümmert Kim sich um die Menschen – um jene, die hier arbeiten, ebenso wie um alle anderen, die mitfiebern und feiern wollen. Sie wechselt leere Bierfässer gegen volle aus und schleppt den Nachschub vom Kühlschrank zur Grilltheke: Cervelats, Bratwürste, die pikanten Chäs-Griller und den beliebten Züri-Dog mit Sauerkraut.

Von hier in die Welt

Kim Wyder, langes, blondes Haar, im rechten Nasenflügel ein filigranes Gold-Piercing, ist sozusagen eine Urküsnachterin: Mit ihrem älteren Bruder wächst sie im Weiler Wangen auf dem Küsnachterberg auf, der im Wesentlichen aus einem Katzenhotel, einer Tankstelle und der Automobil-Werkstatt ihres Onkels besteht. Kim absolviert die Diplommittelschule, jobbt mal in der Administration eines Warenhauses, dann wieder in einer Präzisionswerkzeugfabrik. Dabei erkennt sie je länger, desto deutlicher, dass ihre Zukunft im Sozialwesen liegt – und da besonders im Engagement für die Jugend.

Eine eigene Familie allerdings ist für Kim, selbst Spross eines bekannten Familienclans auf der Forch, gar kein Thema: «Ich setze mich herzlich gern für Kinder und Jugendliche ein», sagt Kim Wyder, die mittlerweile mit ihrem Partner in Erlenbach lebt. «Aber Kinder – das kommt für mich nicht infrage.» Fast scheint es, als hätten derlei Widersprüche System: Mit dem Glauben im christlichen Kontext kann Kim ähnlich wenig anfangen wie mit dem Gedanken an eigenen Nachwuchs – oder dem Fussball. Dennoch engagierte sie sich beim Cevi (Kürzel für den Christlichen Verein junger Männer und Frauen), später auch im Küsnachter ökumenischen Pfarreilager als Jugendgruppenleiterin. Es geht ihr, wenn sie sich mit Herzblut für ein Anliegen einsetzt, ganz offensichtlich immer um die Jugendarbeit – und nie um die Ideologie dahinter.

Kim Wyder, die neben ihrem 60-Prozent-Job in der Küsnachter Freizeitanlage auch noch ein Vierzig-Prozent-Pensum als Jugendarbeiterin in der Katholischen Kirche versieht, frönt in ihrer knapp bemessenen Freizeit einer Leidenschaft, die sie hoch hinaufführt: «Ich wandere fürs Leben gern», gesteht sie. «Neulich, mit einer Freundin, von Wasserauen über den Säntis bis zum Seealpsee – das war Natur pur – und die ganz grosse Freiheit!»

Wenn am kommenden Sonntag im Berliner Olympiastadion der Fussball-Europameister 2024 erkoren wird, kann auch in Küsnacht gefeiert werden – ein Jubiläum: zehn Jahre Public Viewing in der Sunnemetzg. 2014, als Deutschland in Brasilien Weltmeister wurde, hatte Manuel Häusermann das Turnier zum ersten Mal in seiner Freizeitanlage stattfinden lassen.

Zwei Jahre später – 2016 wird Portugal in Frankreich Europameister – kommt es im Rahmen des Turniers in der Sunnemetzg zu einer ersten Begegnung zwischen Manuel Häusermann und Kim Wyder. Sie hat zuvor erfahren, dass in der Gemeinde Küsnacht eine Stelle als Leiterin der Freizeitanlage zu besetzen sei – und sich sofort dafür interessiert. «Da sah ich, was das für ein Knochenjob ist», erinnert sie sich an jenes Gespräch.

Doch die Herausforderung schreckt sie nicht ab – im Gegenteil: Sie will den Job, jetzt erst recht. Und sie bekommt ihn auch, allerdings unter einer Bedingung: Kim Wyder muss, wenn sie die Co-Leitung der Freizeitanlage übernehmen will, berufsbegleitend ein Studium absolvieren. Vier Jahre Soziale Arbeit mit Schwerpunkt in der Disziplin Soziokulturelle Animation. «Das war ziemlich hart. Aber es hat gepasst; denn auch wenn der Fussball alles andere ist als eine meiner Kernkompetenzen, so ist das Public Viewing nichts anderes als gelebte soziokulturelle Animation.»

Friedliche Stimmung

Wenige Tage vor dem Final der jüngsten Austragung des EM-Public-Viewing kann Kim Wyder bereits eine positive Bilanz ziehen. «In all den Jahren und auch jetzt, nach diesem Turnier, war die Stimmung immer mega friedlich; nichts ist kaputt gegangen, nichts geklaut worden. Genau so muss es sein, so macht sogar Fussball Spass!»

Allerdings hat sie auch dieses Mal – wie immer gemeinsam mit Co-Leiter Häusermann – schwierige Entscheide fällen müssen. So waren für den Abend des 29. Juni, als die Schweiz im Achtelfinal den Nachbarn Italien mit 2:0 Toren aus dem Turnier warf, heftige Unwetter vorausgesagt worden. «Wir mussten rasch reagieren», erinnert sie sich. «Als wir dann erfuhren, dass in der Westschweiz alle Aussen-Veranstaltungen abgesagt worden waren, haben auch wir das Public Viewing schliessen müssen.» Das befürchtete Unwetter tobte dann allerdings jenseits der Alpen – und am Zürichsee ist alles ruhig geblieben. Das Nachsehen hatte in diesem Fall ausgerechnet jener Verein, der bei Notwetter zum Einsatz kommt: Für diesen Abend wären die Seeretter bierzapfend und wurstbratend hinter der Theke gestanden.

Zwei Prinzipien des Küsnachter Public Viewing sind den Co-Leitern Häusermann und Wyder Herzensanliegen. Das eine ist der kostenlose Zugang. Und das andere das Gemeinwohl in Form des Vereinswesens: Die Idee, an jedem Spieltag die Mitglieder eines der Küsnachter Vereine für die Gastronomie einzusetzen – und in diesem Fall wird dann auch der Gemeinderat in corpore als Verein definiert und sozusagen zum Service public abdelegiert –, hat sich in zehn Jahren bestens bewährt. «Wir stellen alles, was es braucht, zur Verfügung – und die Mitglieder der Vereine bedienen das Publikum», erklärt Kim Wyder. «So können sie sich präsentieren, Mitglieder werben und über die Umsatzbeteiligung auch noch einen Zustupf für die Vereinskasse verdienen.»

Tragödie auf dem Fussballfeld

Am vergangenen Samstag, als Breel Embolo in der 75. Minute das Land in einen Glückstaumel versetzt, kommen die Schauspieler des Laientheaters Limberg zum Zug und setzen sich mit einer realsatirischen Komödien-Premiere «Vom Zapfhahn zur Grillzange» in Szene: «Wir hatten viel Spass dabei», freut sich Theaterpräsidentin Steffi Schneider. «Man hat sich für unsere Vorstellungen interessiert, es hat sogar Bewerbungen gegeben  – und die Umsatzbeteiligung verputzen wir zum Teil bei einem Ausflug mit dem ganzen Ensemble und zum Teil investieren wir sie in die Produktion fürs nächste Jahr.»

Das andere Schauspiel, jenes auf dem Rasen im Düsseldorfer EM-Stadion, droht zur helvetischen Tragödie zu geraten.

Nur fünf Minuten währt die Freude über Embolos Führungstreffer. Dann trifft der Engländer Bukayo Saka zum Ausgleich. Die beiden Verlängerungs-halbzeiten bleiben torlos. Manuel Akanji, der sonst stets so zuverlässige Innenverteidiger, verliert die Nerven – und wird zum tragischen Helden; sein harmloser Schuss endet in den Händen des englischen Goalies Jordan Pickford.

Aus der Traum. Immerhin – es hat bis zum Viertelfinal gereicht.

Fussball-Muffel Kim Wyder ist an diesem Abend wahrscheinlich die Einzige, die in der Niederlage auch einen zuversichtlichen Aspekt erkennt: «Jetzt, wo die Schweizer wieder zurückkehren mussten, kann ich getrost schon am Samstag mit den Kindern und Jugendlichen ins Sommerlager verreisen.»

Wohin soll’s denn gehen?

Da verdreht sie schelmisch die Augen. «Kann ich nicht sagen, soll eine Überraschung werden – und nicht in der Zeitung stehen.»

Wenigstens ein Hinweis?

«Okay! Das Codewort heisst Gunzgen Nord!»