Abo bestellen

"So diszipliniert habe ich diesen Kantonsrat noch nie erlebt"

Zurück

Dieter Kläy, 56, ist als Kantonsrats-Präsident der höchste Zürcher. Der FDP-Mann erinnert sich an die erste Kantonsratssitzung im Zeichen der Corona-Krise vom Montag.

Dieter Kläy, Sie haben am Montag eine historische Kantonsratssitzung geleitet: Zum ersten Mal in der 190 Jahre alten Geschichte des Rats wurde nicht im Rathaus …

…stimmt nicht ganz: Im Juli 2017 tagte der Rat schon einmal ausser Haus: Damals fand die Sitzung anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Einführung des Proporz-Wahlsystems in der Winterthurer Sulzerhalle statt.

Das war eine freiwillige Massnahme. Jetzt mussten Sie in die Messehalle ausweichen, um die Massnahmen des Bundesrats gegen die weitere Ausbreitung der Corona-Pandemie einhalten zu können.

Das ist so – insofern war dies die erste unfreiwillige auswärtige Kantonsratssitzung.

War es schwierig, die bundesrätlichen Vorschriften einzuhalten?

Eigentlich nicht. Die Halle war gross genug, dass der Zwei-Meter-Abstand problemlos eingehalten werden konnte. Wir haben auch das Rednerpult wieder eingeführt – und nach jeder Wortmeldung desinfizieren lassen. Man musste sich nicht handschriftlich in die Präsenzliste eintragen, das hat ein Weibel übernommen. Ausserdem haben wir keine Pause eingelegt, in welcher der eine oder die andere vielleicht versucht gewesen wäre, den Ratskollegen näher zu begrüssen, als erlaubt ist.

Einige sind allerdings der Sitzung ferngeblieben.

Rund 150 der 180 Ratsmitglieder waren anwesend, das ist etwas weniger als der Durchschnitt, aber deutlich mehr, als ich erwartet hatte. Ich muss sagen, dass eine vorbildliche Disziplin herrschte. Viele gaben berufliche oder familiäre Gründe an, die Angst vor einer Ansteckung war nicht der einzige Grund für eine Abmeldung. Es waren höchstens zwanzig, die der Sitzung wegen Corona fernblieben.

… unter ihnen Nina Fehr Düsel von der Küsnachter SVP. Sie gab im «Küsnachter» der Hoffnung Ausdruck, dass in Krisenzeiten auch eine elektronische Abstimmung ermöglicht würde.

Das wird wohl eine fromme Hoffnung bleiben; dann dazu müsste man das Kantonsratsgesetz ändern. Es gilt das Unmittelbarkeitsprinzip; und dieses verlangt, dass die Parlamentarier physisch anwesend sein müssen. Ansonsten könnten Abstimmungsresultate allenfalls für ungültig erklärt werden.

Dies war die 51. Kantonsratssitzung unter Ihrer Leitung. Worin unterscheidet sie sich im Wesentlichen von den 50 vorangegangenen?

Neben der nachträglichen Absegnung des regierungsrätlichen Rettungspakets für besonders betroffene Gewerbetreibende wurden an dieser Sitzung auch die Gemeinden ermächtigt, ausserordentliche Beschlüsse zu fassen.

Was bedeutet dies genau?

In der aktuellen Krisensituation können Massnahmen beschlossen werden, die so dringlich sind, dass sie nicht vorgängig von der Gemeindeversammlung legitimiert werden müssen. Das ist vergleichbar mit den Massnahmen, die der Bundesrat in einer besonderen Lage ohne den Segen des Parlaments beschliesst.

Das Coronavirus setzt Sie nicht nur politisch unter Druck; sie müssen die Krise beim Gewerbeverband auch beruflich managen.

Da bin ich für arbeitsrechtliche Fragen zuständig. Es kommen in der Tat sehr viele Anfragen. Es gibt viel zu tun in diesen Zeiten.

Kann diese Arbeit nicht im Homeoffice erledigt werden.

Nein, ich fahre jeden Tag im Zug von meinem Wohnort Winterthur nach Bern und zurück.


Viele meiden den öffentlichen Verkehr; sie fürchten, angesteckt zu werden.

Die Züge sind derzeit so leer, dass ich mich sehr sicher fühle.

Geisterzüge zur Stosszeit – ist das nicht auch beklemmend?

Es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn man praktisch allein in einem Waggon sitzt. Auf der anderen Seite kann man da konzentriert arbeiten.

Wie lange wird es dauern, bis wir diese Krise in den Griff bekommen?

Ich rechne nicht damit, dass wir im kommenden Monat aufatmen können. Es wird wohl Mai werden – mindestens. Aber das ist ein reines Bauchgefühl. Wie auch das Gefühl, dass die Welt nach Corona eine andere sein wird. Aber fragen Sie mich jetzt bitte nicht, wie anders ……  (Interview: Daniel J. Schüz)