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«Sprache muss immer wieder neu gefunden werden»

Erstellt von Isabella Seemann |
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Am 20. September liest die preisgekrönte Autorin Melinda Nadj Abonji im Kafi Carl in Küsnacht – einem Ort, der eng mit ihrer Biografie und ihrem literarischen Schaffen verwoben ist. Hier wuchs sie auf, erst in der Genossenschaftssiedlung in Heslibach und später im Schübel-Quartier.

Melinda Nadj Abonji ist eine der herausragendsten Stimmen der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. 1968 kam sie in der nordserbischen Provinz Vojvodina zur Welt, ihre Familie gehörte der ungarischen Minderheit an. Aufgrund des Ausländergesetzes (ANAG) durfte sie nicht bei ihren Eltern in der Schweiz leben. Erst mit viereinhalb Jahren konnte sie mit ihrem älteren Bruder in die Schweiz einreisen, wo ihre ­Eltern an der Goldküste lebten und arbeiteten.

Nadj Abonji wuchs in Küsnacht auf, in der Genossenschaftssiedlung in Heslibach und später im Schübel-Quartier. Der vielfache Verlust der Heimat, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, das Leben zwischen den Welten, die Identitätssuche und die spätere Konfrontation mit den Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien: Aus diesen Erfahrungen webt sie den Stoff für ihre Geschichten. Ihr zweiter Roman «Tauben fliegen auf» wurde 2010 mit dem Schweizer Buchpreis sowie als erster Schweizer Roman überhaupt mit dem Deutschen Buchpreis bedacht und international gerühmt.

Am 20. September kehrt die 56‑jährige Autorin, Performerin, Musikerin und studierte Historikerin nach Küsnacht zurück, um im Kafi Carl ihr literarisches Werk zu präsentieren und sich mit dem Publikum auszutauschen. Der Schauplatz ist ihr vertraut: Als es noch Café Münz hiess, in den 1990er-Jahren, wirteten ihre Eltern dort. Melinda Nadj Abonji half im Lokal regelmässig aus und verewigte es in ihrem preisgekrönten Roman.

Melinda Nadj Abonji, Sie lesen morgen in Küsnacht im Kafi Carl, dem einstigen Café Münz, in dem Ihre Eltern wirteten und Sie selbst oft arbeiteten. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Ort?

Melinda Nadj Abonji: Ich habe viele Erinnerungen. Geliebt habe ich, wenn es in der Küche nach den frisch gebackenen Wähen meiner Mutter roch oder nach der legendären Bolognese-Sauce meines Vaters; das schöne Gefühl, wenn wir alle ­gemeinsam nach einer anstrengenden Arbeitswoche am späten Samstagnachmittag selbst einen Kaffee geniessen konnten; als meine Schwester und ich erstmals zwei Wochen lang das «Münz» allein führten, war das für uns beide eine prägende Erfahrung; wir begriffen, wie viel es braucht, damit eine Cafeteria reibungslos funktioniert und wie viel unsere Eltern täglich leisten.

Küsnacht, eine Gemeinde, die oft mit Wohlstand und Tradition verbunden wird – wie haben Sie diese Umgebung in Ihrer Kindheit und Jugend als Migrantenkind wahrgenommen?

Ich merkte früh, dass es Menschen gab, die uns auf Augenhöhe begegneten; andere wiederum sahen uns als unliebsame Konkurrenz, als «främdi Fötzel». In der Primarschule erlebte ich ein Kontrastprogramm. Meine erste Primarlehrerin war eine liebenswürdige Frau und eine begnadete Pädagogin. Mein zweiter Lehrer war ein unzufriedener Rassist, der mir verbieten wollte, die Gymi-Prüfung zu machen, obwohl ich eine sehr gute Schülerin war. Das führte mich zu einem festen Entschluss: Mich nicht einschüchtern zu lassen, auch nicht von mächtigen Autoritäten.

Könnte man sagen, dass Küsnacht für Sie als Künstlerin eine Art Knotenpunkt darstellt zwischen dem, was Sie hinter sich gelassen haben, und dem, was Sie als Erwachsene und Schriftstellerin neu definieren mussten?

Ja, natürlich musste ich Küsnacht hinter mir lassen. Mit zwanzig war Zürich aufregender, vielfältiger, offener. Ich lernte sehr schnell Leute kennen, die mehrsprachig aufgewachsen waren, die den Jugoslawienkrieg hautnah miterlebt hatten und die mit einem wachen politischen Bewusstsein unterwegs waren. Das beflügelte mich. Es war aber nicht das Spannungsfeld Küsnacht–Zürich, das mich zum Schreiben brachte, sondern die Begegnung und der Dialog mit Herbert Gamper, der als Privatdozent an der Uni Zürich arbeitete; ohne ihn wäre ich nie Schriftstellerin geworden.

Ihr Werk, insbesondere «Tauben fliegen auf», behandelt Migration, Identität und Heimat. Wie hat sich Ihr Verständnis von Heimat seit dem Erfolg Ihres Buches verändert?

Alle genannten Begriffe meide ich wenn möglich, da sie ideologisch aufgeladen sind. Erzählen heisst, solche Begriffe nicht einfach zu brauchen, sondern unmerklich zu analysieren, ihre festgefahrenen Bedeutungen zu unterwandern. «Migration» heisst also nicht dasselbe wie «Migration erzählen»; denn oftmals wird die erzählte Migration unsere Vorstellung, was Migration in unseren Köpfen ist, nicht bestätigen. In der Literatur geht es darum, die Welt – durch Sprache – neu oder anders erfahrbar zu machen. Ich verbrachte meine ersten Jahre in Jugoslawien, einem Land, das es heute nicht mehr gibt. Die blutige Zerstörung geschah im Namen des Patriotismus und der Heimatliebe. Heimat im Sinne eines Schatzes der Kindheit, den wir alle miteinander teilen, wie es ein befreundeter Schriftsteller ausdrückt, ist deshalb nicht nur eine kluge Definition, sondern ein Aufruf zur Besinnung, dass wir nämlich alle aus dem Land der Kindheit kommen, dem Land der Imagination.

Nach dem Gewinn des Schweizer Buchpreises und des Deutschen Buchpreises 2010 wurden Sie verstärkt als öffentliche Figur wahrgenommen. Wie hat diese Anerkennung Ihren kreativen Prozess verändert?

Vieles, was ich nach diesem unerwarteten Erfolg erlebte, war positiv – nachdem ich mich eine Weile vor lauter Erschöpfung hatte erholen müssen. Ganz bestimmt hätte ich ohne die Preise etliche Menschen nicht kennengelernt, mit denen ich heute befreundet bin. Zum Beispiel meine Französisch-Übersetzerin. Durch unsere gemeinsame Arbeit wurde mir viel klarer, was es bedeutet, einen litera­rischen Text von einer Sprache in die andere zu übersetzen; dass Übersetzen eigentlich unmöglich ist und deswegen unendlich interessant. Allerdings hat sich durch den Erfolg vieles auch nicht verändert. Zeit ist immer noch mein kostbarstes Gut, meine grösste Freiheit. Meine Verbundenheit mit Menschen, die keine mächtige Lobby haben.

Die Literatur von Migrantinnen und Migranten wird oft dafür gefeiert, die Perspektive des «Anderen» in die hiesige Kultur zu bringen. Wie erleben Sie persönlich diesen Spannungsbogen zwischen Anerkennung und Marginalisierung?

Das Label «Migrantenliteratur» beruht auf einer Reduktion, dass es so etwas gibt wie eine Identität als Migrantin, deshalb stösst mich dieses Label ab. Mich interessiert die Sprache, die Vielfältigkeit von Sprache, und, wie bereits erwähnt, ihre Unübersetzbarkeit. Prägend für meine ­Literatur ist sicher, dass ich mehrsprachig aufgewachsen bin und als Kind die Erfahrung gemacht habe, nicht verstanden zu werden und mich nicht ausdrücken zu können. Insofern glaube ich, dass meine Literatur auch heute noch aus einem tief empfundenen Gefühl der Sprachlosigkeit entsteht; Sprache ist nie da, sondern muss immer wieder neu gefunden und erfunden werden.

Viele Schriftsteller sprechen von Phasen des Zweifelns und der Unsicherheit während des Schreibprozesses. Kennen Sie diese Momente auch?

Ja, sicher. Ich zweifle täglich. Wie gesagt: Sprache ist für mich kein Besitz. Jeder Text fordert mich aufs Neue heraus. Der Zweifel ist manchmal zum Verzweifeln, aber immer wieder auch ein Glück, wenn etwas Unerwartetes entsteht. Der Titel meines letzten Buches «Schildkrötensoldat» trägt für mich in einem Wort eine derartige Fülle in sich, dass ich daraus eine ganze Geschichte erzählen konnte.

Sie arbeiten momentan an neuen Projekten. Können Sie uns einen Einblick geben, worauf sich Ihre kreativen Gedanken zurzeit richten?

Ich engagiere mich für einen Verein namens Tesoro, der sich für die historische Aufarbeitung des Saisonnier- und des Jahresaufenthalterstatutes einsetzt. Es geht darum, einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, wie viel Unrecht ein Gesetz, in diesem Fall das ANAG, verursachte. Ausserdem schreibe ich an einem neuen Roman und arbeite als Drehbuch-Co-Autorin an einem Spielfilm.