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Stürmische Liebe auf und neben dem See

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Andy Sutter liebt das Wasser in jeder Form: Die alte Liebe des ehemaligen Küsnachter Spitzen-Hockeyspielers gehörte dem Eis, seine neue Leidenschaft widmet der Kommandant der Küsnachter Seeretter dem See.

Innerhalb von wenigen Minuten hat sich über der Albiskette eine Wolkenwand aufgebaut, sehr schwarz und ziemlich bedrohlich. Schon peitschen die ersten Böen über den See. Mehrere Gewitterzellen sind angesagt, die von den Innerschweizer Voralpen nach Nordost ziehen.

André Sutter steht vor der breiten Fensterfront in der Einsatzzentrale des Seerettungsdienstes Küsnacht-Erlenbach und scannt mit dem Feldstecher die Wasseroberfläche. Einzelne Segelboote sind immer noch da draussen. Für viele, die nicht rechtzeitig gerefft haben, ist es jetzt zu spät – sie müssen beidrehen und abwettern. Die Windsurfer hingegen, die vor Erlenbach und Herrliberg über die Wellenkämme brettern, haben auf die orange blinkenden Feuer nur gewartet, die im Sekundentakt – von Richterswil über Wädenswil und Thalwil bis nach Wollishofen – alle Schiffe auffordern, unverzüglich den nächsten Hafen anzulaufen. Nur den Windsurfern verspricht die Sturmwarnung Spasswetter. Für sie gilt die Devise: Nichts wie raus!

Ein kleines Motorboot auf halber Höhe Richtung Horgen erregt die Aufmerksamkeit des Seeretters: Irgendetwas stimmt dort nicht.

Am Morgen dieses hochsommerlichen Samstags hat noch eitel Sonnenschein geherrscht, gegen Mittag ist drückende Schwüle aufgekommen, am Himmel sind die Cumuluswolken in die Höhe geschossen. Das, denkt Sutter, der seit fünf Jahren den Seerettungsdienst kommandiert, bald seinen 50. Geburtstag feiert und sich lieber Andy statt André nennt, das ist ­genau die Wetterlage, die uns Arbeit ­beschert.

Sechzig bis siebzig Einsätze leistet die 23 Mann starke Truppe des Seerettungsdienstes Küsnacht-Erlenbach – darunter auch sechs speziell ausgebildete Taucher – in einem normalen Jahr, «es können aber durchaus auch mal neunzig bis hundert werden», rechnet Sutter vor. «Auch im letzten Coronajahr mussten wir überdurchschnittlich oft ausrücken.» Das habe allerdings weniger am Wetter gelegen als am Pandemievirus: «Statt am Meer haben die meisten Menschen ihre Ferien zu Hause verbracht, das Gedränge in den Badeanstalten gemieden und sind lieber mit ihren Booten auf den See ­gefahren.»

Das kleine Boot dort draussen dümpelt in den Wellen, ist ohne Fahrt offensichtlich manövrierunfähig – kein gutes Zeichen unter den gegebenen Bedingungen. Da kommt auch schon die Alarmmeldung herein: «Motorboot mit mutmasslichem Motorschaden treibt führungslos im Sturm.»

Andy Sutter legt den Feldstecher zur Seite, eilt mit zwei Kameraden zur «Tina», wirft den Motor an und löst die Taue.

Keine geringere als Küsnachts berühmteste Bürgerin, Rock-Weltstar Tina Turner, hat das Flaggschiff vor acht Jahren getauft. Mit zweimal 440 PS und fast zwölf Metern Länge ist das grössere der beiden Einsatzschiffe der ganze Stolz der Küsnachter Seeretter. Vor zwei Wochen erst wurde das Rettungsschiff selbst gerettet und ist zurzeit noch an der Aussenmole des Seerettungsdienstes vertäut: Nach dem Starkregen war das Wasser im Bootshaus so hochgestiegen, dass die «Tina» die Ausfahrt nicht mehr hätte passieren können. Sie musste vor dem Hochwasser in Sicherheit gebracht und im Hafen Steinburg vertäut werden; im Nachbarhafen Goldbach sind vor gut einem Jahr sieben Segelboote durch ein Grossfeuer zerstört worden, dessen Ursache bis heute rätselhaft geblieben ist.

«Wir sind auf dem Wasser das, was die Feuerwehr an Land ist», erklärt Sutter die Aufgabe der Seeretter. «Wie die Feuerwehr sind auch wir als freiwillige gemeinnützige Organisation dem Gemeinderat unterstellt. Und immer wieder kommt es auch vor, dass wir gemeinsam ausrücken – wie damals, bei den brennenden Schiffen im Goldbach-Hafen. Oder wenn etwa nach einem Verkehrsunfall aus­laufendes Öl droht das Grundwasser
zu verschmutzen. Dann liegt es an uns, den Bach vor der Mündung mit einer Ölsperre zu verschliessen und den See zu schützen.»

In erster Linie jedoch kümmern sich die Küsnachter Seeretter um die Schiffe auf dem See und vor allem um die Menschen auf den Schiffen. Die Vielfalt der Einsätze reicht von den seltenen spektakulären Unfällen bis zu alltäglichen Routineaufgaben, um absehbaren Gefahren vorzubeugen.

Zu Ersteren gehört zweifellos das Kursschiff Albis, das im April vor vier Jahren mit seiner Masse von 160 Tonnen nahezu ungebremst den Küsnachter Landesteg gerammt hatte. Zehn Verletzte mussten aufwendig geborgen werden, unter ihnen der Kapitän und der Schiffskoch, der zum Zeitpunkt der Kollision mit der Fritteuse hantiert und sich dabei schwere Verbrennungen zugezogen hatte. Oder, zehn Jahre zuvor, jener ältere Herr aus dem Raum Obersee, der zu nächtlicher Stunde vom Zürcher Seebecken nach Hause fahren wollte, sein schnelles Motorboot mit Vollgas am Ufer entlang steuerte und dabei wohl nicht bedacht hatte, dass das Küsnachter Horn eine Landzunge bildet, die seinen Kurs kreuzte. «Das Boot hing in einem Baum», erinnert sich Andy Sutter an einen seiner ersten und zugleich aussergewöhnlichsten Einsätze als Seeretter. «Der Mann ist aus dem Wrack seines Bootes gestiegen, vom Baum geklettert und wie durch ein Wunder nahezu unverletzt geblieben.»

Schon von weitem kann Andy die beiden Gestalten an Bord des kleinen Motorbootes ausmachen, auffällig dunkel gekleidet die eine und sehr hell die andere; sie hocken in dem schwankenden Boot und machen wild gestikulierend auf sich aufmerksam. Die Seeretter schaffen es, beizudrehen, das Tau hinüberzuwerfen und zu belegen. Erst, als er auf dem havarierten Boot an Bord gegangen ist, erkennt Andy Sutter, dass er es mit einem Hochzeitspaar zu tun hat: Braut und Bräutigam, zitternd und bis auf die Haut durchnässt. Sie seien von ihren Trauzeugen entführt und in dieses Schiff gesetzt worden, erzählen die beiden, man habe sie angewiesen, über den See nach Erlenbach zu fahren. Aber dann sei plötzlich dieses Unwetter aufgezogen – und der Motor ausgefallen.

Andy Sutter erinnert sich an seine ­eigene Hochzeit. Monika war seine erste grosse Liebe – und ist es bis heute geblieben. Schon in der Schule hat es zwischen den beiden gefunkt – und nach der Schule erst recht: «Ich spielte damals schon sehr engagiert Eishockey», erzählt Andy. «Und ich trainierte nahezu jeden Tag; da war es ganz praktisch, dass Monika in der Nähe der KEK wohnte; so konnte ich sie jeweils zwischen Schule und Training besuchen – und manchmal auch danach!»

Monika ihrerseits wurde bald schon sein grösster Fan, sie begleitete die Kar­riere und das Leben des aufstrebenden SCK-Verteidigers bis in die erste Liga. Bis zum Traualtar. Und weit darüber hinaus.

Wir haben jetzt so viel über die Seerettung gesprochen», sagt Andy Sutter, der diese Aufgabe zwar mit grosser Leidenschaft und Hingabe wahrnimmt, dies als Milizionär aber nur nebenbei tut. Im Hauptberuf sitzt er als Marketingchef in der Geschäftsleitung eines Unternehmens, das sich auf die Beratung, Einrichtung und Planung von Büroräumlichkeiten spezialisiert hat. «Der grosse Vorteil in diesem Job ist die Möglichkeit des Home­office, die Arbeitsform der Zukunft, sie setzt – auch ohne Pandemie – Vertrauen voraus und macht maximale Flexibilität möglich.» Das komme auch seiner dritten Leidenschaft entgegen, die neben Seerettung und Berufsleben «die allerhöchste Priorität» hat: die Familie.

Dazu gehören auch Fynn, der älteste Sohn, bereits zwanzig Jahre alt und derzeit in der Militärpolizei-RS, sowie der 13 Jahre alte Kimi, der seinem Vater auf dem Eis nacheifert. «Er trainiert sechsmal in der Woche und träumt natürlich von einer Karriere als Profistürmer», sagt der Vater mit unverhohlenem Stolz. «Wir sind jetzt klassische Hockey-Kid-Eltern, die den Sohn an den Wochenenden zu den Spielen in der ganzen Schweiz chauffieren. Das können wohl nur jene Eltern wirklich nachvollziehen, die früher selbst Eishockey gespielt haben.»

Triefend nass und mit erheblicher Verspätung stösst das entführte Brautpaar endlich doch zur Hochzeitsgesellschaft vor der Kirche am Erlenbacher Seeufer. Und alle sind zufrieden – die frisch getrauten Eheleute, weil sie überzeugt sind, dass der abenteuerliche Start in den Hafen der Ehe eine glückliche Zukunft verspricht. Und die drei Seeretter, weil sie jetzt schon wissen, dass sie heute den schönsten Einsatz ihres Lebens geleistet haben.