Der Chirurgie-Chefarzt Vital Schreiber baut zusammen mit Küsnacht einen eigenen Krisenstab auf. Schreiber über das Virus, das Ende des Lockdowns und die Wertschätzung des Personals in Spitälern.
Vital Schreiber, Küsnacht hat einen eigenen Krisenstab Gesundheit gegründet. Was bereiten Sie genau vor?
Wir wollen den Austausch von allen in der Gesundheitsversorgung aktiven Organisationen oder Berufsgruppen in der Gemeinde koordinieren, den Wissensstand vereinheitlichen, mögliche Entwicklungen voraussehen und konsekutiv allfällige Planungen auslösen. Wo nötig, sind diese zu koordinieren. Kurz: Wir wollen die Gesundheitsversorgung ausserhalb einer akutmedizinischen stationären Spitalbehandlung sicherstellen.
Was sind konkrete Beispiele?
Verschiedene Organisationen sollen auch bei 20 Prozent Personalausfall funktionieren. Und wir wollen den Materialbedarf und dessen Versorgung sicherstellen. Ein drittes Beispiel, aufgrund der Erfahrungen in Norditalien, ist das Einrichten von Räumen für allfällige zentrale Behandlungen und medizinisch-pflegerische Überwachungen, falls diese zu Hause oder in den Spitälern nicht mehr durchgeführt werden können.
Andere Gemeinden gründen jetzt auch ihre eigenen Krisenstäbe.
Küsnacht war früh dran mit seinem Krisenstab. Dank der Voraussicht von Markus Ernst konnten wir uns rasch vorerst in einer Art Kernstab mit dem Sicherheitsvorsteher Martin Wyss und dem Bezirksarzt Andreas Steiner treffen. Danach erfolgte die erste physische «Plenarversammlung» mit den Küsnachter Vertretern. Unterdessen finden die Sitzungen mit Videokonferenzen statt.
Unterstützte Sie der Kanton dabei?
Dieser hatte zuerst alle Hände voll zu tun und musste sich darauf konzentrieren, die Spitalversorgung personell und materiell sicherzustellen sowie den mindestens einmal täglich ändernden Weisungen und Erkenntnissen Folge zu leisten. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir das Verhalten des Virus – also Dauer der Ansteckbarkeit, Virusmenge für Übertragung, Risiko der Wiederansteckung – nicht genau kennen. Ein Pandemieplan sieht eine grobe Struktur vor. Darin können unsere zwar geschätzten Gemeinde- und Kantonsrechte sowie Freiheiten gegenüber einer zentralen Führung, zum Beispiel des Bundes, zeitlich hinderlich wirken. Proaktive Handlungen umsichtiger und vorausdenkender Gemeinden sind deshalb kantonal willkommen.
Was macht Sie zum «Krisenstabmann»?
Wie häufig im Leben gibt es sicher auch andere geeignete Personen. Da ich im Spital Uster als Spitalleitungsmitglied die Führung und Umorganisation des Spitals zur Vorbereitung der Covid-Pandemie-Fälle aufgebaut habe, hilft es sicher auch im Umgang mit dem Gesundheitskrisenstab Küsnacht. Weil sowohl Markus Ernst wie auch ich militärisch eine Kommandantenlaufbahn haben und hatten und nun in grossen Verbänden oder Kommandi Dienst leisten, hilft dies auch im Verständnis und der Herangehensweise bei unklaren und dringenden Herausforderungen.
Was ist Ihre Worst-/Best-Case-Prognose?
Die Antwort zu dieser Frage wüssten wir alle gerne. Statistisch sicher kann noch niemand Auskunft geben. Wir dürfen aber annehmen, dass kein exponentielles Wachstum in der Schweiz stattfindet. Täglich nehmen aber die bestätigten Fälle noch zu. Nach der ersten Plafonierung und dem Beginn von wahrscheinlich gestaffelten Lockerungen wird es wohl immer wieder zu Anstiegen oder kleineren Wellen kommen.
Was ist jetzt das Wichtigste?
Wir müssen verhindern, dass wir in der Schweiz zu wenige Beatmungsplätze für die Patienten haben – unabhängig davon, ob Covid-erkrankt oder sonst. Dies ist uns bisher gelungen. Da die notwendige Beatmungsdauer bisher im Schnitt zwischen zwei bis drei Wochen dauern kann, ist ein belegter Beatmungsplatz jeweils lange besetzt. Wir möchten vermeiden, bei fehlenden Plätzen entscheiden zu müssen, wer prioritär «Anrecht» auf diese Behandlung hat und welchem einzelnen Menschen sie verwehrt werden müsste.
Immer mehr junge Leute erkranken ...
Bisher können wir nur bestätigen, dass, je älter eine Person ist und je mehr Nebenerkrankungen bestehen, desto höher das Risiko eines schwierigen oder gar tödlichen Verlaufs ist. Genaue Informationen über die Durchseuchungsrate haben wir nicht. Dies ist auch ein Grund, weswegen – aus epidemiologischen Gründen – nun im Kanton Zürich seit diesem Montag alle in von der Gesundheitsdirektion bestimmten Spitälern übernachtenden Patienten auf Covid-Infektion untersucht werden.
Fünf Prozent der Infizierten sterben, zehn weitere sind schwere Verläufe.
Diese Zahl ist zu allgemein und zu wenig statistisch belegt. Es gibt wahrscheinlich eine sehr hohe Dunkelziffer an infizierten Patienten. Da diese nicht getestet wurden, bleibt die offizielle Fallzahl an Infizierten tiefer und somit die Sterblichkeitsrate relativ hoch. Ein Blick auf die Weltkarte genügt, um zu verstehen, dass die Testrate sehr unterschiedlich ist. Fazit: je älter und je kränker, desto gefährlicher diese Virusinfektion. Deshalb sollen das Social Distancing, das Händereinigen und Desinfizieren eingehalten und der Kontakt zu älteren oder Risikopersonen vermieden werden. Der mehrheitliche Verbleib zu Hause, der Verzicht auf Treffen mit mehr als fünf Personen sowie der Verzicht auf Ausflüge ausserhalb der Hauptwohnsitzregion erlauben, das Risiko der Virusverteilung und der Bildung eines geografisch neuen Infektfokus zu reduzieren.
Das Maskentragen wird gerade heiss diskutiert ...
Der zusätzliche Gewinn der Maskentragpflicht einer einfachen, nicht speziell abdichtenden Maske bei strikter Einhaltung der zuvor erwähnten Massnahmen ist nicht bewiesen. Sofern wir aber von Massnahmen, wie Social Distancing, absehen müssten und alle Personen die Masken korrekt tragen und in nötigen zeitlichen Abständen auswechseln, wäre es eine Option. Masken werden bald auch in der Schweiz wieder in höheren Mengen produziert, sodass ein Engpass weniger wahrscheinlich wird. Dies zeigt uns zu gut, dass auch die materielle Unabhängigkeit ihren Preis hat, den wir auch in allfällig langen Nichtkrisenzeiten zu bezahlen bereit sein sollten.
Sind handgenähte Masken auch gut?
Solche Alternativen sind bereits weltweit – auch in der Schweiz – im Einsatz. Je höher die Krise, desto mehr sind wir bereit, auf alle bisher teils masslos übertriebenen und kostentreibenden Zertifizierungen zu verzichten. Wahrscheinlich werden wir derzeit auch nicht mehr für jeden «Blödsinn» eine Haftpflichtklage einzureichen versuchen.
Wie lange dauert der Shutdown noch?
Historisch dauert die Quarantäne vierzig Tage. In dieser Karwoche sind erst gerade vierzig Tage vorbei. Betreffend Covid-Infizierten wird die Symptomfreiheit verlangt. Erschwerend wird nun noch der Heuschnupfen dazukommen. Bei der Vollständigkeit und der Dauer der Immunisierung gegenüber dem Covid-Infekt ist sich die Wissenschaft noch nicht sicher. Die Mutationsgeschwindigkeit des Virus, also die Geschwindigkeit bis zum Eintreffen eines veränderten, ebenfalls krankmachenden Corona-Virus, ist ebenfalls unklar.
Testen, testen, testen – fordern die Wissenschaftler, und dann die Erkrankten und ihre Kontakte konsequent isolieren.
Eine fast gleichzeitige Testung aller Einwohner werden wir technisch mit den aktuellen Tests nicht durchführen können. Möglicherweise wären neue Tests mit der Überprüfung der Immunisierung – also Abwehrfähigkeit gegenüber dem Virus – ein Ansatz. aktuellen Tests dazu sind aber sehr wenig sensitiv, das heisst sie erfassen bei weitem nicht alle Personen, die Antikörper entwickelt haben. Noch ist auch unklar, ob genesene Patienten sich wieder anstecken und infektiös werden können. Dieser Tatbestand spricht ebenfalls gegen Tests möglichst vieler Mitmenschen.
Nebst den gesundheitlichen Bedenken sind die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Lockdown sehr gross.
Es ist tatsächlich neu oder zumindest erstmals so ausgeprägt in der Geschichte, dass eine rein medizinische und auf das einzelne Individuum fokussierte Betrachtungsweise den absoluten Vorrang hat und dies von der Gesellschaft getragen wird. Das Gemeinwohl bedarf mittel- bis langfristig noch weiterer Elemente, sodass ich gespannt auf die allfällige Phase warte, wenn der Druck der anderen – auch wirtschaftlichen – Bedürfnisse für das Allgemeinwohl stärker werden wird.
Wie gross ist die Angst, sich als Arzt selber anzustecken?
Bisher ist die Ansteckungsrate des hiesigen Personals, das mit Covid-Erkrankten in Kontakt kommt, erfreulich sehr tief. Es scheint, dass die Schutzmassnahmen gut ausgeführt werden und greifen. Was mich betrifft: Ich gehöre nicht der Risikogruppe an, was wenigstens statistisch betrachtet bei mir einen weniger schweren Verlauf erhoffen lässt. In der Familie sind wir seit mehreren Generationen Ärzte, ich fühle mich sinngemäss dem hippokratischen Eid verpflichtet und darüber hinaus bin ich ein Idealist. Das macht es einfacher – andere würden vielleicht auch sagen, gefährlicher … Ich arbeite täglich noch voll im Spital.
Kommt so eine Pandemie wieder?
Ja, es werden wieder Pandemien kommen. Teilweise werden es weniger gefährliche Viren sein und vielleicht einmal ein leichter zu übertragender und noch krankmachenderer neuer Virus. Ich weiss aber nicht wann. Diesen Herbst werden wir uns möglicherweise noch mit «Restwellen» des Covid-19 auseinandersetzen müssen. Wir werden aber auch Impfstoffe und Medikamente entwickeln können. Auch dürfen wir uns sehr glücklich schätzen, in einem Land zu wohnen, das eines der besten, wenn auch teuersten Gesundheitssysteme hat, das wir uns noch leisten können. Vielleicht lernen wir auch, dass das Personal hierfür sehr viel wert ist. (Manuela Moser)
Krisenstab
Im Krisenstab Küsnacht arbeiten: Der Gemeindepräsident Küsnacht, der Vorsteher Sicherheit, die Vorsteherin Gesundheit, die Gemeindeschreiberin, der Bezirksarzt, die Geschäftsführerin der Spitex, der Leiter Gesundheit für die Gemeindepflegeheime in Küsnacht, der Präsident des Gewerbevereins und Geschäftsführer der Apotheke, der Kommandant der Zivilschutzorganisation KEZ und die Präsidentin des Samaritervereins. Zudem sind die Gemeindepräsidenten von Erlenbach und Zumikon zugeschaltet, sodass ein gemeindeübergreifender Mehrwert entsteht. (ks.)
Zur Person
Vital Schreiber (49) ist Facharzt Chirurgie, Schwerpunkte Viszeralchirurgie FMH sowie Allgemein- und Unfallchirurgie FMH. Er wohnt mit seiner Familie in Küsnacht und arbeitet im Spital Uster als Chefarzt Chirurgie, Departementsleiter der operativen Disziplinen und als Spitalleitungsmitglied.