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Vasyl, der Oster-Bär

Erstellt von Dani J. Schüz |
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Weil ein Pizzabäcker in Uster frisch verliebt ist, haben krebskranke Kinder aus der Ukraine einen riesigen, flauschigen Spielkameraden bekommen. Der Bär war fast zu gross für die Liebe – und fand ein neues Zuhause. Eine Oster-Geschichte.

Der kleine Denys lernt das Plüsch-Monster als Erster kennen: Am Gründonnerstag betritt er an der Hand seiner Mutter das grosse Spielzimmer. Und er spürt, dass heute etwas anders ist als sonst – es muss etwas sehr Grosses sein. Die Mutter führt ihn zu einer Ecke neben der Tür.

Sehen kann er es nicht – jedenfalls nicht mit den Augen. Der elf Jahre alte Bub aus der Ukraine ist blind: ein Hirn­tumor hat ihm das Augenlicht geraubt. Denys ist eines von derzeit rund 20 krebskranken Kindern, die seit drei Jahren im ehemaligen Küsnachter Altersheim Sonnenhof Zuflucht suchen und dort neue Hoffnung und Heilung finden. Neugierig und systematisch «betrachten» Denys’ Hände ein Ungetüm, das unerwartet im Spielzimmer aufgetaucht ist, und während die kleinen Finger verspielt in den flauschig-weichen Pelz greifen, leuchtet ein kleines Lächeln im Gesicht des blinden Kindes.

Ein Anruf, der alles verändert

Wenige Stunden zuvor hat sich ein unbekannter Anrufer auf Nava Baders Smartphone gemeldet. Sein Deutsch war gebrochen, auch den Namen konnte die Leiterin des «Doubledecker», einer Vorschule für zweisprachige Kinder in Küsnacht, nicht auf Anhieb verstehen. «Nennen sie mich Buli. Das ist einfacher als Bulin Skovercani», lachte der Mann. Er müsse etwas loswerden, fuhr er fort, einen Bären, an dem die «Doubledecker»-Kids bestimmt Freude hätten. «Aber der Teddy ist ziemlich gross – doppelt so gross wie ein richtiger Bär ...» Für einen so grossen Bären sei in der Schule leider kein Platz, bedauerte Nava Bader. «Aber drüben, im Sonnenhof, wohnen kranke und kriegstraumatisierte Kinder, die aus der Ukraine in die Schweiz geflohen sind.»

Das stimmte Bulin Skovercani nachdenklich. «Ich war noch ein Baby, als meine Eltern vom Kosovo in die Schweiz flohen. Ich hatte Glück und weiss nicht aus eigener Erfahrung, was Krieg bedeutet. Meine Heimat, der Balkan, und die Ukraine, wo diese Kinder herkommen, sind die einzigen Länder in Europa, die nach 1945 von Kriegen erschüttert worden sind. Es wäre schön, wenn diese Kinder mit Arush – so nennen wir im Kosovo die Bären – einen Freund bekämen.» Buli, der in Uster als Pizzaiolo arbeitet und in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung lebt, hat eine Schwäche für Kuscheltiere. «Das war schon so, als ich noch ein Kind war», lacht er. «Und das ist bis heute so geblieben – vor allem liebe ich Plüschhunde, aber auch Teddybären.» Vor zwei Monaten fiel ihm im Internet die Werbung für einen «Riesen-Teddy» auf: «Der sah so cool aus, dass ich ihn unbedingt haben musste».

Gesehen, bestellt, geliefert: Arush erwies sich als Dreimetervierzig-Ungetüm und füllte das halbe Schlafzimmer aus. ­Bulis Freundin fand ihn denn auch sehr gross – «eigentlich viel zu gross». Da kamen erste Zweifel auf: «Wir hatten geplant, dass sie bei mir einzieht – und zwar schon bald. Ich wollte nicht riskieren, dass sie mich vor die Wahl stellt: ‹Der Bär oder ich›», sagt er.

Ein Bär für Denys

Für Buli stand fest: «Der Bär muss weg. Wenn ich keinen Kindergarten oder Hort finde, wo Arush Platz hat und willkommen ist, muss ich ihn im Sondermüll entsorgen.» So hat der grosse Bär grosses Glück gehabt und im Sonnenhof eine neue, unerwartete Heimat gefunden: Am Morgen vor Karfreitag hat Nava Bader dem Pizzabäcker den Tipp mit den krebskranken Kindern gegeben – und am frühen Nachmittag schleppt Buli seinen Arush ins Spielzimmer des ehema­ligen Seniorenheims. Es dauert nicht lange, bis die Kinder den Bären entdecken, sie kuscheln mit ihm und turnen auf ihm herum. Vlad hat einen eigenen Teddy mitgebracht und stellt ihn dem großen vor: «Das ist Mischa, und der da», fährt er fort und zeigt auf den Riesenbären, «der heisst jetzt Vasyl.»

Der blinde Denys hat das Spielzimmer verlassen. Er wartet draussen, bis die ­anderen wieder weg sind; denn Vasyl ist sein Oster-Bär – und nur seiner. Er kennt den Unterschied zwischen dem Osterhasen, den es wahrscheinlich ja gar nicht gibt, und seinem Vasyl, den er in voller Grösse «gesehen» hat: «Er ist schon sehr viel grösser. Dafür hat der Osterhase längere Ohren.»