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Von der Weihnachtsorange

Erstellt von Pfarrer Andreas Cabalzar, Reformierte Kirche Erlenbach |
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Es gibt sie, diese beschützende Liebe. Anders als die grosse Liebe oder die Liebe zu den Eltern, den Freunden. Eine Liebe wie eine Wolke – oder eben: wie ein schützender Mantel. Nonno hat sie erfahren. An Weihnachten. Beim Essen einer Frucht.

Nonno ist wirklich alt. Seine Schritte sind unsicher geworden, sein Körper hat seine Spannkraft verloren, auch sein Augenlicht ist schwach, einzig sein Geist ist hellwach. In seinem Ohrsessel hört er am liebsten Bachs Fugen und die Goldberg-Variationen, gespielt von Glenn Gould. Musik, die Ordnung schafft, und die Hörbücher, die seinen Geist anregen. Aber sonst wenig Abwechslung. Es ist einsam geworden, Gianna ist vor zehn Jahren ­gestorben und viele seiner Freunde sind auch schon gegangen. Es fehlen immer mehr Nahe, mit denen er seine Erinnerungen teilen kann: «Weisch no ... ?»

Seine Tage sind vom Rhythmus der Spitex und der Familie geprägt. Am Morgen kommt Frau Weber und hilft ihm bei der Morgentoilette, dann begleitet sie ihn ins Wohnzimmer der Familie seines Sohnes Niculin. Dieser hat mit seiner Familie das Haus nach Giannas Tod übernommen und Nonno ist in die Einliegerwohnung gezogen. Seine Kreise sind immer enger geworden. Nach dem Morgenritual gibt es Zeit für die Musik und Gedankenreisen in die Vergangenheit, aber auch neue Impulse durch die Hörbücher, die er bei der Blindenbibliothek bestellt. Zurzeit hört er «Der grosse Wind der Zeit» von Joshua Sobol, ein Roman mit starken Frauen, über vier Generationen werden die ­Geschichte der Familie und die ­Geschichte Israels erzählt. Eva, eine Pro­tagonistin des Romans, stark, eigenwillig, lebenshungrig, erinnert ihn an seine ­Gianna, die als junge Frau als Schau­spielerin in Basel gelebt hatte, bevor sie sich im «Kontiki» in Zürich kennen ­gelernt haben und lebenslang eine intensive, inspirierende, manchmal auch sehr anstrengende Liebe gelebt haben.

Am Mittag holt Enkel Giulian ihn aus seinen Gedankenreisen in die Gegenwart. Sie teilen miteinander das im Ofen ­gewärmte Essen. Sohn und Schwiegertochter sind auf der Arbeit. Giulian will, dass Nonno von früher erzählt. «Wie wars in der Schule, als du klein warst?» Nonno erzählt von der Dorfschule in Vuorz, ­einem Dorf in der Surselva. «Es war schon ganz anders als heute. Wir hatten noch eine Gesamtschule, von der 1. bis zur 6.  Klasse und von der 7. bis zur 9. Klasse ­waren wir jeweils in einem Zimmer. In den ersten Klassen schrieben wir statt in Hefte auf Schiefertafeln – kannst du dir das vorstellen? Und der Unterricht war natürlich auf Romanisch. Ich konnte bis in die Oberstufe wenig Deutsch, das war eine fremde Sprache, die ich lange nicht wirklich mochte. Ja, es ist so vieles anders heute. Es ist schon unglaublich, was sich im Laufe meines Lebens alles verändert hat. Das sehe ich, wenn ich dich anschaue, wie du aufwächst und was du in der Schule lernst.» «Nonno, was war dann so anders?» «Eben kein Computer, kein Handy, viel weniger Informationen und viel weniger Bilder. Es war alles langsamer, einfacher und kleinräumiger. Ich kam erst nach der 9. Klasse, als ich nach Chur ins Gymnasium durfte, zum ersten Mal in die Stadt. Davor war ich nie weiter als Ilanz gekommen. Ha, da kommt mir dein Urgrossvater in den Sinn, der stolz darauf war, dass er nie weiter gereist war, als ihn seine Füsse tragen konnten. Den Autos ging er in Vuorz nicht aus dem Weg, er sei zuerst da gewesen ... Giulian, und wo du schon überall gewesen bist!»

Toskana, Sizilien, Sardinien, Paris, Barcelona, Berlin, lässt Giulian die Familiendestinationen vorbeiziehen. Seine Eltern lieben es, mit ihm Städte zu besuchen. Giulian fragt Nonno, ob er eine Orange zum Dessert möchte. Nonno nimmt die Frucht, beginnt sie zu schälen und ­erzählt: «Wir machten damals keine Reisen, aber auf Gedankenreise war ich oft. Ich nutzte unsere Möglichkeiten. Ein Beispiel: Morgen ist doch der vierte Advent. An diesem Sonntag traf sich jeweils die Familie mit den Nachbarn in unserem Stall. Von der Suche der Herberge, über die Krippe im Stall mit unserem Esel und einer Kuh, den Hirten, die unsere Schafe und Ziegen dabei hatten, und den drei Königen — alle wichtigen Rollen waren jeweils besetzt. Einmal erinnere ich mich, als eine Nachbarsfamilie ein Baby hatte, und es in die Krippe legte und die Eltern Josef und Maria spielten – Weihnachten ganz echt. Das Hellwerden der dunklen Nacht im Stall, die Ablehnung und die Annahme der Familie, der Besuch der ­Hirten mit ihren Tieren und die Freude beim ­Teilen des Weihnachtsgebäcks und des Glühweins. Es tönte, roch und schmeckte nach Weihnachten bei uns.»

«Und wie habt ihr dann am Weihnachtstag gefeiert?», will Giulian wissen. Die Tropfen der Erinnerung tauchen tief ins Gemüt von Nonno ein. Sein Gesicht, sein Blick verändert sich. Er bleibt bei der geschälten Orange vor sich hängen. «Die Orange erinnert mich an eine Geschichte, die ich noch niemandem erzählt habe! Möchtest du sie hören?» – « Ja sicher. Aber ist sie ­erfunden oder wahr?» – «Nein, nicht erfunden, erlebt! Wobei, es spielt keine Rolle, ob eine Geschichte erfunden oder erlebt ist. Wenn sie gut ist, ist sie wahr! Aber meine Geschichte habe ich wirklich erlebt.» Nonno erzählt langsam, Satz für Satz, er hat die Augen geschlossen, als würde er Giulian seine Erinnerungen vorlesen, aus dem Buch seines eigenen Lebens.

«Es war eine Weihnacht, als ich sechzehnjährig war, ich wohnte schon in Chur. Wir feierten in der Familie mit meinen Eltern, Grosseltern. Ein einfacher Baum mit ­Kerzen und wenigen roten Kugeln – meine Eltern waren Kleinbauern und ­lebten sehr bescheiden, was sich auch in unserer Weihnacht zeigte.

Mein «Tat» (Grossvater) las die Weihnachts­geschichte und wir sangen mehrstimmig alle romanischen Weihnachtslieder aus dem Kirchengesangbuch. Als Geschenk bekam ich wie jedes Jahr eine frische Orange. Das war damals ein Schatz, den es nur zu Weihnachten gab. Meine Eltern waren müde, gingen bald schlafen. Ich wollte noch durch die Weihnacht zur ­Heiligabendfeier. Allein durch das ­verschneite Dorf – noch etwas alleine sein und dann nochmals die Geschichte und Lieder.

Der Schnee knisterte unter meinen Schuhen. Es war eiskalt und ich war hellwach. Damals trieb mich die Suche nach Gott um. Ich versuchte Gott zu erfahren, zu denken, zu glauben. Aber Zweifel trieben mich um. Wie du vorhin gefragt hast, fragte ich mich, ob die Geschichten vom Kind in der Krippe, von dem dann als ­Erwachsener so viele weitere Geschichten erzählt werden, wahr seien. Ich fragte mich, wo begegne ich meinem Gott? Wie soll dies geschehen?

Als der Gottesdienst fertig war, auf dem Weg nach Hause, spürte ich ein ­Gefühl, das ich bisher nicht gekannt habe. Eine grosse Liebe, nicht aussen, nicht von jemand anderem, oder der ­Natur, nicht innen im Körper – warm, gehalten, es war einfach gut. Liebe überall. Ich war damals verliebt in eine Mit­schülerin – aber es war nicht so, auch nicht wie die Liebe zu meinen Eltern oder meinen Freunden. Ich war wie in eine Wolke von Liebe – oder eher in einen schützenden Mantel von Liebe gehüllt. Zu Hause in der Stube zündete ich eine Kerze an und schälte langsam meine Orange von dieser so eigentümlichen, tiefen Liebe erfüllt. Ich blieb Stunden am Tisch sitzen, genoss meine Organgenstücke, Stück um Stück. Die Liebe hielt, solange ich mein Geschenk genoss.

Dann, nach dem letzten Orangen­stück, begann sich diese Mantelliebe zu verflüchtigen. Am Morgen war sie weg. Nie wieder in meinem langen Leben habe ich so etwas wie damals empfunden. Jetzt ist sie mir wieder eingefallen, die ­Geschichte meiner Weihnachtsorange. Ja Giulian, es gibt sie, diese unglaubliche Liebe, fast hätte ichs vergessen!»