Das Zürcher Filmfestival flimmert derzeit zum 19. Mal über die Leinwand. Andrea Marco Bianca, reformierter Pfarrer aus Küsnacht, sass wiederum für die Verleihung des Kirchenpreises in der Jury. Passend: Das ZFF hat dieses Jahr den Hashtag #myreligion gewählt. Bianca erzählt, wie er das Festival erlebt hat.
In fünf Tagen habe ich 14 Filme am Zürcher Filmfestival – kurz ZFF – gesehen. Spiel- und Dokumentarfilme aus der Schweiz, Österreich und Deutschland. Alles erste, zweite oder dritte Regiearbeiten. Warum? Weil ich als Kirchenrat Teil der Kirchenjury am ZFF bin. Zusammen mit der Schauspielerin Tonia Maria Zindel, der Regisseurin Fiona Ziegler, der Theologin und Moderatorin Brigitta Rotach sowie meinem katholischen Pendent, Tobias Grimbacher.
Ohne vorher Filmkritiken zu lesen, lasse ich die Filme auf mich wirken. Im Anschluss tausche ich mich mit den anderen aus: Was sind unsere ersten Eindrücke? Wie schätzen wir den Film ein? Nachts begleiten mich die Filme in meine Träume. Am Tag darauf diskutieren wir weiter. Ringen miteinander. Zuweilen auch heftig. Werden wir uns einig? Wir haben alle 14 Filme zu bewerten. Einer unter ihnen soll unseren Preis erhalten: den mit 10 000 Franken dotierten Preis der Zürcher Kirchen am ZFF.
Bildgewaltiger Gewinner
And the winner is ...: «Foudre/Thunder» von Carmen Jaquier (37). Bildgewaltig erzählt die Genfer Regisseurin in ihrem Debütspielfilm die Geschichte einer jungen Frau um 1900, die gegen den einengenden Glauben in einem Schweizer Bergdorf rebelliert und verzweifelt versucht, sich von diesen Fesseln zu befreien.
Unser Juryentscheid passt zum diesjährigen Hashtag des ZFF. Nachdem 2021 #sex im Zentrum stand, ist es 2022 #myreligion. «Wir leben in der Schweiz in einer zunehmend säkularen Gesellschaft, in der es immer mehr Ersatzreligionen gibt», sagt Christian Jungen, Artistic Director des ZFF. Darüber sei zu diskutieren, meint er. Wie Recht er hat.
Bei der Preisverleihung gingen die Meinungen über «Foudre» auseinander. Einige Gäste waren berührt, ja begeistert. Andere fragten uns: Warum habt ihr diesen Film prämiert? Als Jury hatten wir unsere Wahl so begründet: «Foudre» gelingt es, filmsprachlich raffiniert eine ästhetisch-sinnliche Verbindung von Spiritualität und Sexualität zu schaffen und sich so an eine Gotteserfahrung heranzutasten. Nicht alle waren mit uns einig. Bis spät in die Nacht diskutierten die Gäste über den Film. Hat die Kirchenjury richtig entschieden? «Foudre» erhält am nächsten Tag noch den Emerging Swiss Talent Award sowie eine besondere Erwähnung der Hauptjury. Das freut mich sehr.
Glauben im Körper fühlen
Carmen Jaquier thematisiert in ihrem Film die Suche nach einer befreienden und sinnlichen Gotteserfahrung. Damit weist «Foudre» über sich hinaus. Als Kirchenrat weiss ich von nicht wenigen Menschen, die sich auch heute nach einer solchen Erfahrung sehnen. Wie die junge Frau vor über 100 Jahren suchen auch wir einen Glauben, der sich nicht nur im Kopf denken, sondern auch im Körper fühlen lässt. Wie ist das möglich? In einer Welt, die so unsicher und ungerecht scheint?
Vielleicht braucht es gerade wegen solcher Fragen den Preis der Kirchen am ZFF. Er vertieft unsere Beschäftigung mit #myreligion: «Viva la Cinema!» Auf dass das Ende des Films auf der Leinwand nicht das Ende des Films vor dem inneren Auge bedeute!