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Wenn aus Flüchtlingen Gastgeber werden

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Die Tavolata wird zur gastfreundlichen Tradition: Im Küsnachter Sonnenhof bekochen ukrainische Flüchtlinge ihre Schweizer Freunde mit ukrainischen Spezialitäten. Und davon profitieren auch die Menschen in der kriegsgeschüttelten Heimat.

«Diakuju!», sagte Olha Shamko, «danke!». Vor wenigen Tagen bekam sie die Nachricht und konnte zunächst kaum glauben, was sie las. Und als sie endlich erkannte, dass es wirklich wahr war, liefen ihr die Tränen übers Gesicht: «Danke!»

Auch am Anfang dieses Sommers weiss Olha Shamko nicht, ob sie den nächsten Winter überleben wird. Sie ist 76 Jahre alt; vom 800‑Seelen-Dorf Myrne, knapp hundert Kilometer südlich von Saporischschja, ist es nicht mehr weit zur Front. Eines allerdings weiss Olha ganz gewiss: Erfrieren wird sie nicht; denn soeben sind ihr 450 Franken überwiesen worden – zweckgebunden für Holz zum Heizen, genug für einen ganzen Winter.

Einnahmen werden gespendet

Das Geld kommt aus Küsnacht; es entspricht gut einem Drittel der Netto-Einnahmen aus der ersten Tavolata, an der Mitte Mai im Sonnenhof 32 Gäste teilnahmen. Ebenso viele Menschen aus Küsnacht und Umgebung fanden sich auch am letzten Freitag an einem langen Tisch in dem ehemaligen Seniorenheim ein, um es sich bei ukrainischen Spezialitäten und Zürcher Wein gut gehen zu lassen. Und um ein Zeichen der Solidarität zu setzen – Solidarität mit den Opfern der russischen Aggression gegen ein Land, dessen Bewohner die eigene und zugleich die Freiheit des Kontinents verteidigen, an der Heimatfront ebenso wie in der Diaspora.

Von den Dramen und Tragödien, die in jedem Krieg geschrieben werden, berührt die Geschichte des Sonnenhofs auf besondere Weise. Es ist die Geschichte des 71 Jahre alten Küsnachter Ingenieurs Alexander Lüchinger und der 35 Jahre jungen Dolmetscherin Anna Uminska aus Schytomyr.

Seit Jahrzehnten hat Lüchinger die ukrainischen Städte Schytomyr und Winnyzja bei der Versorgung mit Fernwärme beraten und unterstützt. Als Putins Armee am 24. Februar 2022 das Land überfiel, «fühlte ich mich persönlich angegriffen», erinnert er sich. «Und ich fühlte mich für die Sicherheit der Menschen in unseren Betrieben verantwortlich.» Spontan machte er den Frauen und Kindern jener Mitarbeiter, die zur Verteidigung des Landes aufgeboten worden waren, das Angebot, sie unverzüglich zu evakuieren: «Ich hole euch da raus. In der Schweiz kann euch nichts passieren!»

Beste Erste Hilfe

Noch während Lüchinger mit seinen Schutzbefohlenen in einem ersten Bus unterwegs war, liess Küsnachts Gemeindepräsident Markus Ernst eiligst das ausrangierte Altersheim Sonnenhof an der Gemeindegrenze zu Erlenbach für die Aufnahme der Frauen und Kinder herrichten. Gleichzeitig rief der Bürgermeister von Schytomyr Lüchinger an und wollte wissen, ob er vielleicht auch Kinder und Jugendliche, die an Krebs sowie körperlichen und psychischen Einschränkungen litten, in die Schweiz holen könne. Das Walliser Bus-Unternehmen Zerzuben stellte zwei weitere Busse für den Transport der pflegebedürftigen Kinder zur Verfügung, und das Kinderspital Zürich übernahm die medizinische Betreuung der kleinen Patienten.

Bei der notfallmässigen logistischen Bewältigung all dieser Aufgaben stand Anna Uminska, die bei den städtischen Werken von Schytomyr als Übersetzerin  angestellt und jetzt mit ihrem kleinen Sohn Sascha unterwegs in die Schweiz war, dem Küsnachter Fluchthelfer mit Rat und Tat bei. «Ohne Anna», sagt Lüchinger, «hätten wir das nicht geschafft.»

Heute, nach mehr als zwei Jahren, ­leben zwischen hundert und hundertzwanzig Menschen auf den sieben Stockwerken des umfunktionierten Altersheims. Während Lüchingers evakuierte Mitarbeitende selbstständig in eigenen Mietwohnungen untergekommen sind, setzen sich die Sonnenhof-Bewohner praktisch ausschliesslich aus den kleinen Patienten, die längst eingeschult worden sind und regelmässig therapeutisch ­behandelt werden müssen, und ihren Eltern zusammen.

Das Team Lüchinger und Uminska

Alexander Lüchinger und Anna Uminska sind im Auftrag der Gemeinde für den reibungslosen Betrieb in der Flüchtlingsunterkunft verantwortlich – Lüchinger als Koordinator, Uminska als «Hausmutter», wie er ihre Aufgabe scherzhaft umschreibt. «Dann bist du aber der Papa», gibt sie lachend zurück und fährt fort: «Ich kenne die Bewohner alle sehr gut, ­berate sie und stehe ihnen bei, wenn es Probleme gibt.»

Die gebe es, weiss das Team Lüchinger-Uminska, leider immer wieder. «Auf den einzelnen Etagen bilden sich familiäre Gruppen, die sich manchmal voneinander absondern.» Das liege auch an der besonderen Situation – fern der Heimat, deren Zukunft bedroht ist, in einem Land, wo kulturelle Gräben zugeschüttet und sprachliche Barrieren überwunden werden müssen.

So kam Lüchinger auf die Idee mit der Tavolata: Ukrainische Frauen stellen ein Drei-Gang-Menü zusammen und bekochen die Schweizer mit Leckereien aus ihrer Heimat. So wurde am Freitag zum Auftakt eine Hühnersuppe mit Spätzli serviert, gefolgt von Fleischvögeln mit Pilz- und Käsefüllung, dazu Ofenkartoffeln mit Knoblauch – und zum krönenden Abschluss die Wyschywanka, eine ziemlich deftige Torte mit Quark, Mohn und Kirschen gefüllt.

Und das alles selbstverständlich nach original-ukrainischen Rezepten. Wirklich? «Na ja», schränkt Anna ein. «Wir lieben es gern mit viel Fett; da haben wir uns dem Schweizer Geschmack angepasst und die Kartoffeln nicht gebraten, sondern im Ofen gebacken.»

Gegenseitiges Verständnis fördern

Indem die Rollen vertauscht und Gastgeber zu Gästen werden, sollen die Integration und das gegenseitige Verständnis gefördert werden. Das, betont Lüchinger, sei eine der beiden Absichten, die er mit der Tavolata verbinde. «Schade, dass an den Tischen nur Schweizer sitzen, die ausschliesslich von Ukrainern bedient werden», wendet der Tischnachbar ein. «Wir sollten doch alle gemeinsam essen und bedienen, wenn wir die Flüchtlinge integrieren wollen.» – «Das», räumt Lüchinger ein, «ist eines der Probleme, die wir noch lösen müssen. Es gibt unter unseren ukrainischen Freunden halt auch solche, die zwar gerne für Schweizer kochen – nicht aber für ihresgleichen ...»

Und was ist die zweite Absicht hinter der Tavolata? «Das Geld», schmunzelt Lüchinger. «Jeder, der sich an diesen Tisch setzt, bezahlt 80 Franken. Und da alle gratis kochen und servieren, fallen keine Unkosten an. So bleiben nach Abzug der Unkosten rund 1200 Franken, die wir einem karitativen Zweck zuführen. Dabei achten wir darauf, dass wir alle, die begünstigt werden, wirklich kennen, um sicherzugehen, dass unser Geld nicht in der Korruption verschwindet.»

Zum Beispiel Olha Shamko im kleinen Dorf Myrne, die im nächsten Winter nicht frieren muss. «Diakuju!», sagte sie. «Danke!»

Die nächste Tavolata im Sonnenhof findet am 30. August statt; anmelden kann man sich schon jetzt unter der E-Mail-Adresse sonnenhof.ua@gmail.com.