Abo bestellen

Wenn Weihnachten schon im August beginnt

Erstellt von Daniel J. Schüz |
Zurück

Als Präsidentin des Küsnachter Damenturnvereins sind Martine Gautschis Tage gezählt. Sie aber zählt schon die Tage bis Weihnachten – dann wird «ihre» Linde auf der Forch mit LED erglühen.

Dienstagabend kurz vor acht auf dem Vorplatz der Küsnachter Schulanlage Zentrum: Ein halbes Dutzend junge Frauen hat sich vor dem Eingang eingefunden. Einige tragen bunte Bälle unterm Arm. Das Volleyball-Team des Damenturnvereins – die Frauen nennen sich «Erste Mannschaft» – wartet auf seine Präsidentin, die sich jetzt zu ihnen gesellt und erklärt, es gebe vor dem Training noch ein Fotoshooting. Alle sollten doch bitte zusammenstehen und in die Kamera lächeln. Da nehmen Manuela und Carmen die Chefin spontan auf die Schultern, ganz so, als hätten sie soeben mindestens einen WM-Pokal gewonnen. Es ist offensichtlich: Diese Frauen gehen für Martine Gautschi durch dick und dünn.

Früher undenkbar
Es gab eine Zeit, lang ist’s her, da sprach man von «ehrbaren Töchtern», wenn es um junge Frauen ging. Sport war «Körperertüchtigung» – und in den Augen der Männer, die bestimmten, was sich gesellschaftlich ziemte und was nicht, war der nichts fürs zarte Geschlecht. Ein hauswirtschaftlicher Kurs stand den Töchtern besser an und war allemal sinnvoller und zielführender als kollektive, öffentlich zelebrierte Leibesübungen.

Gegen diesen Zeit-Ungeist hatten 24 junge Küsnachterinnen, die im Jahr 1896 einen Damenturnverein ins Leben rufen wollten, keine Chance. Auch sieben Jahre später, als die Eröffnung der Primarturnhalle neue Hoffnungen nährte, fanden sie wenig Unterstützung in der Gemeinde. Weitere vier Jahre sollten ins Land gehen, bis sich die Sportpionierinnen endlich durchsetzen und ihre kühne Idee umsetzen konnten. 1907 schlug die Geburtsstunde des DTVK, des Damenturn-Vereins Küsnacht.

Heute dürfen auch Buben bei den Damen mitturnen; neben über 200 weiblichen Vereinsmitgliedern im Alter von drei bis neunzig Jahren haben 15 junge Burschen ihre eigene Riege im Damenturnverein – auch wenn sie nicht am selben Tag wie die Meitli trainieren wollen: Für Präsidentin Martine Gautschi ist die letztes Jahr gegründete jüngste Riege der Buben «ein wichtiger Schritt in die Zukunft des Vereins».

Sie selbst wird einen – für sie nicht minder wichtigen – Schritt zurück machen, zurück ins Glied: «Nach vierzig Jahren im Verein und zwanzig an dessen Spitze habe ich alles erreicht, was ich mir beim Amtsantritt vorgenommen habe», bilanziert die Präsidentin, die während vier Jahren auch die Volleyball-Seniorinnen gecoacht hat und bei Bedarf immer wieder mal als Trainerin eingesprungen ist. «Alle Gruppen – die Turnerinnen, die Volleyball-Mannschaft, die Jugendriegen und die Angebote für Eltern und Kinder – sind gut aufgegleist. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo der Verein eine Blutauffrischung braucht.»

Nachfolgerin noch offen
Noch ist die Nachfolge nicht geregelt. «Wir haben im Vorstand zwar konkrete Vorstellungen», sagt Martine Gautschi, «aber noch keine verbindliche Zusage. Ich hoffe, dass meine Nachfolgerin bis zur nächsten Generalversammlung gewählt werden kann.» Und dann? «Dann werde ich erstmal tief durchatmen und selbstverständlich weitermachen – als Volleyballspielerin», sagt Martine Gautschi und lacht. «Und als ganz normales Vereinsmitglied.»

Über die Frage, was sie sich als Abschiedsgeschenk vorstellen könnte, braucht sie nicht lange nachzudenken. «Bloss keine Blumen und keinen Früchtekorb», lacht Martine Gautschi. «Aber eine Aktentasche wäre nett; die alte ist mir ob all dem Papierkram, den die Aufgaben einer Vereinspräsidentin mit sich bringen, buchstäblich auseinandergefallen.»
Französische Wurzeln

Im Sommer 1964 kommt Martine im Spital Männedorf zur Welt. «Ich war die jüngere von zwei Töchtern eines Küsnachter Tapezierers und einer französischen Tapeziererin aus Paris, was auch die französische Version meines Vornamens erklärt.»

... und wohl vermuten lässt, dass sich dahinter eine romantische Liebesgeschichte verbirgt – die grosse Reise eines Küsnachter Handwerkers in die Stadt der Liebe ...

«... er hat einen Auftrag bekommen», unterbricht Martine. «Mein Vater sollte in Paris eine Tapezierarbeit ausführen – und bei diesem Job lernte er eine Berufskollegin kennen. Er verliebte sich Hals über Kopf in die junge Annie Blanche – und fuhr wieder zurück in die Schweiz. Annie schickte ihm laufend Briefe; aber Gautschi ist nicht einer, der grosse Worte macht oder lange Texte verfasst. Stattdessen besorgte er sich ein Stofftierli, eine kleine Knuddelkuh, und schickte sie in einem hübsch verschnürten Päckli an die Seine.» Darob, fährt Martine fort, habe sich Annie, ihre nachmalige Mutter, so gerührt gezeigt, dass sie kurzerhand ihre Koffer packte, an den Zürichsee reiste und bald schon den Küsnachter Paul heiratete.
Rund vier Jahrzehnte später brachte die Jahrtausendwende auch die grosse Wende in Martines Leben. Mit dem Jahr 2000 startete sie durch – und zwar in jeder Hinsicht: sportlich, emotional und auch geschäftlich.

Auf der sportlichen Ebene erfolgte die Wahl ins Präsidium des Küsnachter Damenturnvereins – eine ehrenvolle Aufgabe, die sie zwanzig Jahre lang mit Leidenschaft, Empathie und hoher Kompetenz wahrgenommen hat.

Auf der beruflichen Ebene gelang Martine Gautschi ein veritabler Karrieresprung. Nachdem ihr Traum von einer Zukunft als Goldschmiedin mangels Ausbildungsmöglichkeiten geplatzt war, hatte sie sich zur Bijouterie-Verkäuferin ausbilden lassen, ein Gemmologie-Studium absolviert, sich als Edelsteinprüferin spezialisiert und schliesslich in der Elektrobranche als Administratorin Fuss gefasst. Doch dann fiel ihr an einem Betriebsfest dieser junge Elektroinstallateur ins Auge; er eroberte Martines Herz im Sturm.
Daniel Müller und Martine Gautschi wurden fortan nicht nur Partner im Leben, sondern auch im Geschäft. Zusammen mit einem weiteren Paar – Louis und Rosmarie Schneuwly – gründeten sie elektro4, ein Fachgeschäft und Dienstleistungsbetrieb, dessen zwanzig Mitarbeiter so ziemlich jede Installation montieren und jedes Problem lösen können, das am Stromnetz hängt.

Eine Weihnachtslinde für alle
Das traditionelle und öffentlichkeitswirksame Meisterwerk der Firma steht einmal im Jahr einen Monat lang auf einem Acker oben im Kaltenstein. Seit 15 Jahren erfreut die Weihnachtslinde die Augen der Forch-Bewohner. Und der Punsch, den die vier elektro4-Bosse an den Abenden der Adventssonntage ausschenken, wärmt neben klammen Fingern auch eingefrorene Herzen.
Und schon morgen wird Martine Gautschi sich um die Bestellungen für Glühwein, Rum-Punsch und selbst gebackene Früchtebrote kümmern und mit den Vorbereitungen für die Installation der 12 000 LED-Lämpli beginnen, die vom ersten Advent bis zum Dreikönigstag die Welt rund um den Lindenbaum verzaubern.
Für die scheidende Präsidentin des Damenturnvereins Küsnacht beginnt der Advent schon im August.