Seit sechs Jahren kommandiert Thomas Bürgin die Küsnachter Feuerwehr. Ende 2021 gibt er das Kommando ab. Bis dahin, so hofft er, werden die Stimmbürger einen Kredit bewilligen, der «aus dem ältesten Feuerwehrdepot des Kantons eine moderne, effiziente Einsatzzentrale macht».
Nein! Blitzartig, wie ein Stossgebet, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf. Bitte nicht!
Bis heute lässt ihn das Bild nicht mehr los – auch wenn der Einsatz schon zwei Jahrzehnte zurückliegt. Thomas Bürgin war kurz zuvor der Freiwilligen Feuerwehr Küsnacht beigetreten und zu einem seiner ersten Alarm-Einsätze aufgeboten worden: Unfall auf der Seestrasse. Frontalkollision mit Personenschaden. Bergung mit hydraulischem Gerät. Und dann sah er auf dem Rücksitz eines Autowracks diesen Kindersitz ... Nein – bitte kein Kind!
«Wenn es um Kinder geht», sagt Thomas Bürgin, «ist immer alles anders ...»
Seit sechs Monaten betreut der 48-jährige Küsnachter als Klassenlehrer an der Berufswahlschule Uster die sogenannte «Sprint»-Klasse. «Dabei geht es vor allem um die sprachliche Integration von jungen Menschen, die noch nicht lange in der Schweiz leben.» Und seit sechs Jahren ist er für «die Sicherstellung der Sicherheit
in der Gemeinde Küsnacht während 24 Stunden im Tag und 365 Tagen im Jahr» verantwortlich – so hält es das Pflichtenheft des Kommandanten der Freiwilligen Feuerwehr Küsnacht in lupenreinem Amtsdeutsch fest.
Wie der Vater, so der Sohn
Bürgin war selbst noch ein Kind, als er zum ersten Mal in einem TLF sass, in einem dieser grossen Tanklöschfahrzeuge. Sein Vater Christoph Bürgin, im ganzen Dorf als «Chrigel» bekannt, Chefgärtner bei der Gemeinde, Pikett-Chef bei der Feuerwehr, nahm den Sohn gelegentlich mit, wenn es im Depot etwas zu erledigen gab. Als er als Bub während einer Fahrschule im TLF mitfahren durfte, ging ein Alarm los. «Ich durfte hocken bleiben», erinnert er sich, und seine Augen glänzen, als wäre er wieder der Zwölfjährige von damals, «während wir mit Blaulicht und Sirene zum Einsatzort rasten!»
Könnte es sein, dass dem Junior gar nichts anderes übrig blieb, als in die Fussstapfen der väterlichen Feuerwehrstiefel zu treten? «Schwierige Frage ...» Thomas Bürgin reibt sich das Kinn. Er sei nicht zur Feuerwehr gegangen, beteuert er, um dem Vater zu gefallen – «gwüss nöd!». Zwar habe der Vater seinen Abschied als Pikett-Chef zur Jahrtausendwende genommen, just zu dem Zeitpunkt, als der Sohn dem Korps beitrat.
«Aber das», sagt Kommandant Bürgin zwanzig Jahre später, sei «purer Zufall» gewesen. Das ändere nichts daran, dass der Vater – Chrigel Bürgin ist Anfang des vergangenen Jahres nach langer Krankheit gestorben – ihm «stets ein Vorbild», gewesen sei; denn: «Ich war halt schon immer ‹en Füürwehr-Bueb›.»
Feuerwehr-Kids sind keine Seltenheit in Küsnacht: Die Pflege familiärer Kameradschaft ist dem Kommandanten ein zentrales Anliegen. Bei geselligen Anlässen wie dem traditionellen Chlaus-Abig oder der Pikett-Reise sind immer auch die Partnerinnen und die Ehemaligen eingeladen. Und unter seinen 34 «AdF»s – so pflegen politisch korrekte Bürokraten die «Angehörigen der Feuerwehr» genderneutral zu umschreiben – seien immerhin fünf Frauen. Auf sie ist Bürgin besonders stolz; er hofft, dass bald noch mehr dazukommen. «Denn Frauen stehen den Männern in keiner Hinsicht nach.»
Zudem brauche die Küsnachter Feuerwehr dringend Nachwuchs: «Zwei gehen da schon mit gutem Beispiel voran», freut sich der Kommandant. «Sie haben sich in der Feuerwehr kennen gelernt, bald darauf geheiratet – und jetzt ist der Nachwuchs schon unterwegs!»
Nachwuchs steht bereit
Ein anderes Paar ist ebenfalls auf dem besten Weg Richtung Feuerwehr-Nachwuchs: Wenn die Kinder des Kommandanten im Garten hinterm Haus spielen, zückt der achtjährige Raphael einen imaginären Pager. «Alarm! S brännt im Schuelhuus!» «Iisatz!», bestätigt die zwei Jahre jüngere Schwester Janina. Beide stülpen sich einen Helm auf den Kopf und rennen über die Wiese, derweil schaut der Vater amüsiert zu und passt auf, dass keines der Kinder auf die Idee kommt, mit dem Gartenschlauch einen Wasserschaden anzurichten. «Aus Janina könnte ein Füürwehr-Meitli werden», schmunzelt er. «Die weiss schon ganz genau, wo die verschiedenen Geräte ihren Platz auf dem TLF haben.»
Wenn er das Spiel seiner Kinder beobachtet, kommt ihm oft der eigene Vater in den Sinn. Thomas war noch ein Kind – er mochte etwa so alt gewesen sein wie sein Sohn Raphael heu-
te –, als sein Vater spätabends nach Hause kam, von einer «ganz normalen Feuerwehrübung», wie er behauptete. Doch seine unkontrolliert zitternden Hände verrieten ihn. Der Bub ahnte, dass da noch was anderes war, dass sein Vater etwas Schlimmes erlebt haben musste, aber nicht darüber sprechen wollte.
Damals herrschte noch diese fatale «No speak about»-Mentalität: Über Gefühle spricht man nicht, wer Emotionen zeigt, ist ein Weichei. Später erst stellte sich heraus, dass «die ganz normale Übung» ein Ernstfall mit zwei Todesopfern gewesen war. Zwei Arbeiter waren beim ungeschützten Reinigen eines Tanks giftigen Dämpfen zum Opfer gefallen – und Chrigel Bürgin war einer der beiden Feuerwehrleute, die die Leichen bergen mussten.
«Wahrscheinlich hatten sie nach dem Einsatz kein Debriefing bekommen», vermutet Thomas Bürgin. «Bis heute weiss ich nicht, ob mein Vater sich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet hat, oder ob er auf Befehl handeln musste. Er befürchtete wohl, dass ich nicht gut schlafen könne, wenn ich erfahre, was er getan hatte. Dabei hat diese Erfahrung offensichtlich ihm selbst den Schlaf geraubt.»
Deshalb hat Bürgin zwei Grundsätze definiert, die unter seinem Kommando höchste Priorität haben – allem voran die physische Sicherheit: «Ich will keine Verluste – alle, die ausrücken, müssen vollzählig und gesund auch wieder einrücken.» Zweitens, das psychische Wohlergehen: «Nach jedem schwierigen Einsatz hocken wir zusammen und reden über das, was nachträglich belastend sein kann. Wer ein seelisches Trauma erlitten hat, hat Anspruch auf professionelle Hilfe.»
Als Klassenlehrer in der Berufswahlschule wie auch als Kommandant der Feuerwehr legt er Wert auf praktische Effizienz. Bürokratischer Papierkram hingegen gehört weniger zu seinen Kernkompetenzen. Thomas Bürgin versteht sich als Macher, nicht als Administrator. Vor allem aber will er den Menschen die Angst nehmen, etwas falsch zu machen: «Fehler sind zum Lernen da, auch der Chef kann und weiss nicht immer alles.»
Jährlich fast 160 Einsätze
Seine bunt zusammengewürfelte Miliztruppe – «vom Banker über den Elektriker bis zum Akademiker sind alle Berufsgruppen und Altersklassen vertreten» – leistet jährlich fast 160 Einsätze. Neben der klassischen Bekämpfung von Feuersbrünsten geht es etwa auch um die Rettung einer Katze, die sich bei einer kühnen Kletteraktion verstiegen hat; um ausgelaufene Schadstoffe, die neutralisiert werden müssen; um einen mutmasslichen Brandstifter, der Ende Mai im Hafen Goldbach Segelyachten abgefackelt hat. Aber auch um das Höhenfeuer, das am Ersten August beim Forchdenkmal möglichst hell lodern soll und dennoch unter Kontrolle gehalten werden muss.
Und dann taucht es wieder auf, dieses Bild aus seinem ersten Jahr bei der Feuerwehr: Rotierende Blaulichter, Rettungssanitäter, Infusionsflaschen, Gaffer, der Helikopter, der auf der Strasse landet. Und auf der Rückbank in den Trümmern eines Autos – das Kindersitzli.
Eine Person sei ums Leben gekommen, wird er am nächsten Tag in den Nachrichten hören. Aber es war nicht das Kind. Der Kindersitz – davon hat sich Thomas Bürgin als erstes überzeugt – war leer.