Abo bestellen

Wo Menschen mit Beeinträchtigung in ihrer Arbeit aufblühen

Erstellt von Dennis Baumann |
Zurück

Die Martin-Stiftung in Erlenbach beschäftigt in ihren Werkstätten rund 170 Personen mit Behinderung. Ein Selbsttest zeigt, wie selbst einfache Routinearbeiten geübt sein müssen.

Es ist wie in einer Kleinstadt. Ruhig und trotzdem irgendwie lebendig, sehe ich mich einmal genauer um. Gärtner, die Hecken auf Perfektion trimmen, Spaziergänger, die miteinander plaudern, ein ­gewöhnlicher Dienstagmorgen in der Martin-Stiftung, wie es scheint. Sie ist Zuhause und Arbeitsplatz für etwa 170 Menschen mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen. Ich treffe mich mit Dieter Völkle, Abteilungsleiter Werk­stätten der Martin-Stiftung. An der Rezeption weiss man über meinen Besuch ­Bescheid. Ich sei im falschen Gebäude. Der Gebäudekomplex Im Binschädler 10 beherbergt die meisten Wohngruppen, die Schreinerei und die Ateliers. Zwei Fahrminuten später bergauf Richtung Herrliberg bringt mich Dieter Völkle zu den Werkstätten und zeigt, welchen ­Arbeiten die Mitarbeitenden nachgehen.

Aufträge von Gewerbe und Industrie

Bevor ich mir selbst einen Eindruck von der Arbeit in der Martin-Stiftung verschaffe, hält Völkle vor einer Vitrine mit zahlreichen Gegenständen an, die in den Werkstätten verpackt oder hergestellt wurden. Diverse Schachteln, Kleinstteile, Briefumschläge, Gewürze und sogar die berühmt-berüchtigten Schoggitaler werden hier seit vielen Jahren verpackt und an Schulen versendet. «Es sind grösstenteils Routinearbeiten, mit denen wir die Mitarbeitenden beschäftigen. Je nach Einschränkung können sie auch komplexeren Arbeiten nachgehen», erklärt Völkle. Die Arbeit scheint vielfältig. «Wir übernehmen Aufträge aus dem Gewerbe und der Industrie», so Völkle. Es gehe vor ­allem darum, einen geregelten Alltag zu ermöglichen. Morgens frühstücken, sich frisch machen und zur Arbeit fahren. Für uns eine Selbstverständlichkeit, für die Mitarbeitenden der Martin-Stiftung ohne angemessene Betreuung kaum möglich.

«Beim ersten Mal ist es knifflig»

Weg von den Endergebnissen in der ­Vitrine und hin zu den Arbeitsräumen, wo die Mitarbeitenden der Werkstätten arbeiten. Diese Woche steht ein Grossauftrag an. Tausende Pralinenschachteln gilt es zu falten. Sie arbeiten ruhig und konzentriert, die Mitarbeitenden der Martin-Stiftung. Erst als ich meinen Fotoapparat rauszücke, wird meine Anwesenheit bemerkt. Doch möchte ich auch selbst mal Hand anlegen. Zwar war ich nie gut in Handarbeit, aber eine SchachtelPralinen zu falten sollte auch ich noch hinkriegen.

Boden, Deckel und Trennelemente für die Pralinen bilden die drei Haupt­bestandteile der Schachtel. Bereits beim Falten des Bodens wird meine Geduld strapaziert. Die Faltstellen sind schon eingekerbt, die Wände des Schachtelbodens halten bei mir allerdings trotzdem nicht zusammen. Mirjam Dietz eilt mir zur Hilfe bei. Sie ist Mitarbeiterin in den Werkstätten und hat in dieser Zeit bereits drei Schachteln erfolgreich fertiggestellt. Sie ist sichtlich erfreut, kann sie meinen beiden linken Händen auf die Sprünge helfen. «Du musst die Seitenwände gleichzeitig hochziehen und die Ecken ineinander reinstecken. Beim ersten Mal ist es schon etwas knifflig», erklärt sie mir. Ich kriege langsam ein Gefühl fürs Falten, aber wirklich schön werden meine Schachteln nicht. Ob sie jemals Pralinen in sich tragen werden, bezweifle ich.

Hauseigene Teigwarenproduktion

Neben den Pralinenschachteln sehe ich vereinzelt auch andere Aufgaben, welche die Mitarbeitenden der Werkstätten der Martin-Stiftung übernehmen. Salzstreuer werden gefüllt, Bauteile in Plastik verpackt und die hauseigenen Teigwaren in Beutel geschnürt. Es ist kein Zufall, besuche ich die Stiftung an einem Dienstag. «Etwa ein bis zwei Mal im Monat stellen wir an Dienstagen Teigwaren für unseren Quartierladen und weitere Läden her», erzählt Dieter Völkle. Von der Teig­mischung über das Formen der Teig­waren bis zum Verpacken übernehmen die Mitarbeitenden jeden einzelnen ­Arbeitsschritt in der Teigwarenproduktion. Im eigenen Laden Zum Feinen ­Martin verkauft die Stiftung seine ­eigenen Lebensmittel.

Die Mittagsstunde rückt näher und die ersten Werkstattmitarbeitenden sind bereits in der Pause. Die Produktion der Teigmischung habe ich verpasst. «Zurzeit stellen wir Safrannudeln her. An einem Tag produzieren wir fast 60 Kilo Nudeln», sagt mir Ramona Selinger, Arbeits­gruppenleiterin. Auch hier will ich mir einen direkten Eindruck verschaffen. Wie ist es, mit einer Industrienudel­maschine zu arbeiten? Überraschend stressig, wie ich herausfinden soll. Es gelten strenge Hygienemassnahmen. Ich ziehe eine Haube über meinen Kopf, verpacke meine Schuhe in Plastik und desinfiziere nochmals gründlich meine Hände. Vor dem Gerät zeigen mir zwei Mitarbeitende vor, wie die Nudelmaschine funktioniert.

«Sobald die Maschine startet, werden die Nudeln vorne rausgedrückt. Ab zirka 20 Zentimeter Länge solltest du sie ­abschaben und in das Trocknungsgitter legen», erklärt mir die Leiterin der Teigwarenherstellung. Für diese Arbeit braucht es drei Personen. Jemand, der die Nudeln abschneidet, jemand, der das volle Gitter wegbringt, und jemand, der gleichzeitig ein leeres Gitter zur Maschine stellt. Ich schlage mich hier deutlich besser als bei den Schachteln, doch merke ich, wie ermüdend diese Routinearbeit sein kann. Nach zehn Minuten wird mein rechter Arm müde, aber die Maschine macht erbarmungslos weiter. Ich komme ins Hintertreffen und muss die Nudel­maschine abstellen lassen.

Schleifen, flechten, restaurieren

Zu guter Letzt besuche ich die Schreinerei der Martin-Stiftung. Im Hauptgebäude ­erwartet mich Rainer Friesch, Leiter der Schreinerei. Kurz vor Mittag ist es hier ruhig. Ein Bewohner ist mit dem Flechten einer Stuhlfläche beschäftigt. «Wir stellen verschiedenste Holzprodukte für Kunden her. Zudem restaurieren wir auch Stühle und andere Möbel», sagt Friesch. Schleifen, flechten und von Hand sägen können die Mitarbeitenden ohne Aufsicht. «Schwere Gerätschaften dürfen nur bedient werden, wenn ein Schreiner dabei ist», erklärt Friesch. Die Aufträge in der Schreinerei sind zeitaufwendig. Ein doppelt geflochtener Stuhl kann bis zu sechs Monaten in Anspruch nehmen. Es war ein vielseitiger Vormittag in der Martin-Stiftung. Obwohl ich nur einen Ausschnitt aus dem Alltag der Werkstätte gesehen habe, die Routinearbeiten werde ich so schnell nicht mehr unterschätzen. Die Mitarbeitenden scheinen in ihrer Arbeit aufzugehen und zeigen sich gerne von ihrer hilfsbereiten Seite.